Wundertüte —
Es war einmal, in einer Welt, die so weit von unserer entfernt ist, dass es für so viele Kilometer keine Zahlen mehr gibt, ein kleiner Junge. Auf seinem Weg von der Schule nach Hause fand er, gerade als er sich bückte, um einen gelockerten Schnürriemen festzubinden, einen Taler. Der kleine Junge hatte noch nie eigenes Geld besessen, dementsprechend glücklich war er über seinen Fund.
Seine Großmutter erzog ihn, da seine Mutter die Qualen seiner Geburt nicht überlebt hatte, sein Vater gefiel im Jahr darauf einer Hexe und zog mit ihr. Die Großmutter hatte kaum Geldmittel zur Verfügung, um für sich und den Jungen zu sorgen; ihre Rente reichte gerade für das Nötigste. Andere Kinder wurden schöner eingekleidet und besaßen besseres Spielzeug, das sah der Junge wohl, weshalb er einen ganzen Garten voller Wünsche hersagen konnte. Trotzdem hütete er den Taler wie einen teuren Goldschatz und überlegte Tag und Nacht, wie er das Geld ohne Reue ausgeben könnte.
Eines Tages, in einem Bilderbuchsommer, kam der kleine Junge auf seinem Weg von der Schule nach Hause – genau da, wo er das Talerstück gefunden hatte – an einem neu eröffneten Geschäft vorbei, auf dessen Schaufenster ihn große weiße Buchstaben anlächelten. Der kleine Junge legte den Kopf in den Nacken und las: ÜBERRASCHUNGEN FÜR KINDER.
Das war ein Versprechen, das selbst ein kluger Junge wie er nicht ignorieren konnte; schnellen Schrittes betrat er das Geschäft.
Ein unbeschreibliches Durcheinander empfing ihn. Bücherstapel waren wegen mangelnder Statik ineinander gefallen, ungeahnte Mengen Kartons lagen oder standen in kleinen und großen Haufen herum. Teddybären und andere Stofftiere belagerten mit zum Teil verdrehten Gliedmaßen zwei oder drei wahrscheinlich altersfleckige Sitzgelegenheiten, ein wenig Staub bedeckte alles, es roch nach allem und nichts. Das Tageslicht wurde durch einen unsichtbaren Schleier daran gehindert, den Verkaufsraum mit seiner ganzen Kraft zu erhellen.
„Ach, ein Junge“, sagte eine freundliche Stimme. „Was kann ich für dich tun?“
Der Gefragte drehte sich um, da er die Sprecherin sehen wollte. Es war eine ältere Frau mit grauen Haaren, lustigen Augen und kräftigem Leib, die mit einem Buch in den Händen im Hintergrund des Ladens stand und kaum auszumachen war.
„Guten Tag“, grüßte der kleine Junge höflich. „Ich möchte mir die Überraschungen ansehen.“
„Nur zu“, sagte die Grauhaarige und stellte das Buch in ein Regal. „Schau dich um.“
Da standen Schachteln und Kisten umher, aus denen sich Spielkartons mit abenteuerlichen Namen entgegenreckten: ‚Schatzsuche in der Höhle‘, ‚Kartenlegen für Kinder‘, ‚Das Erwachen der Kindheit‘ und – der Junge war ganz aufgeregt, als er die Buchstaben entziffert hatte – ‚Das unverlierbare Spiel‘. Das interessierte ihn sehr, und er hätte es auf der Stelle gekauft, aber ein kleines Pappschild verkündete den Preis für die Spiele, und der war um ein Vielfaches höher als seine gefundene Barschaft. Er sah sich einige Bücher in bunter Verkleidung an, andere waren schlicht weiß gewandet, alle trugen sie aufregende, geheimnisvolle Titel: ‚In die Zukunft sehen‘, ‚Die Sprache der Insekten‘ oder ‚Wo die Winde sind‘. Aber auch diese Bücher waren für ihn viel zu teuer.
Die ältere Frau schien zu ahnen, was den Jungen bedrückte, kam zu ihm fragte: „Wieviel Geld hast du denn?“
Und er antwortete schüchtern: „Einen Taler.“
„Dann“, sagte die Frau und drehte sich so schnell um, dass der Junge die Bewegung gar nicht wahrgenommen hatte, „empfehle ich dir den Kauf einer Wundertüte.“
Mit diesen Worten tänzelte sie in eine entlegene Ecke des Raumes, packte einen bis an den Rand mit großen, weißen Papiertüten angefüllten Karton und schleppte ihn ohne erkennbare Mühe zum gespannt wartenden Jungen.
„Was ist in einer Wundertüte?“, wollte jener wissen.
„Man kann es nicht sagen“, antwortete die Frau, „mag sein, du kannst für eine Stunde fliegen, möglich auch, dass du für einen Tag die Hunde verstehen oder dass du ab heute Trompete spielen kannst. Vielleicht findest du auch eine Karte, die beschreibt, wo du einen Schatz zu suchen hast.“
Dies kam dem Besitzer des Talers sehr verlockend vor, und hastig sagte er: „So eine Tüte will ich haben.“
„Bitte sehr“, sagte die Frau. „Such dir eine aus!“
Sein Blick huschte über die weiß verpackten Geheimnisse, verweilte kurz auf einer scheinbar prallgefüllten Tüte, hastete über unscheinbare hinweg und blieb dann auf einer zerknautschten hängen, die offenbar schon öfter die zweifelhafte Bekanntschaft von ungeduldigen Kinderhänden hatte ertragen müssen.
„Die“, sagte er, vor Spannung ganz heiser geworden, und zog die Tüte heraus.
„Dann wünsche ich dir viel Spaß damit“, sagte die Frau, nahm das Geldstück des Jungen entgegen und steckte es in eine kleine Schachtel.
„Auf Wiedersehen“, sagte er artig; sie aber sagte nichts mehr.
Der Weg nach Hause kam dem Jungen nun viel länger vor als sonst, aber endlich kam er an. Er wartete, bis seine Großmutter zum Einkaufen in die Stadt ging, setzte sich dann ganz ruhig in einen Sessel und starrte die Wundertüte an. Sie sah wirklich arg mitgenommen aus; ein Wunder für sich, dass sie noch nicht eingerissen war. Sie schien leer zu sein. Der Junge fingerte und fühlte eine Weile an ihr herum, nein, da war nichts. Und mit einer entschiedenen Bewegung – rrrrratsch – öffnete er die Wundertüte beinahe mit roher Gewalt.
Zuerst geschah überhaupt nichts. Dann kam ein leiser Wind auf, kaum bemerkbar, so zart. Der Junge sah sich um, ob die Großmutter vielleicht ein Fenster vergessen hätte, nein, alle waren geschlossen; zaghaft wurde der Wind stärker, mutierte zu einer prächtigen Brise. Die Haare des Jungen flogen um seinen Kopf herum, und dann, als hätte ein Unsichtbarer „Volle Kraft!“ befohlen, heulte, pfiff und stürmte es durch das Zimmer, dass der Junge die Augen schließen und die Hände auf die Ohren drücken musste. Es war ein ausgewachsener Orkan, der den kleinen Jungen fast aus seinem Sessel gefegt hätte.
Aber dann legten sich die Gewalten wieder, der Junge öffnete die Augen, und er sah einen Mann im Zimmer stehen. Der Anzug des Fremden musste sehr teuer gewesen sein, er glitzerte in vielen Farben, dazu trug er weiße Schuhe. Auf dem Kopf hatte er kein einziges Haar, ein Makel, der durch die buschig verwachsenen Augenbrauen mehr als ausgeglichen wurde. Der Mann sah sehr freundlich aus, er lächelte leicht, seine warmen, dunklen Augen leuchteten, er machte eine kleine Verbeugung.
„Ich bin sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen“, sagte der Fremde, „und ich bitte dich, nicht zu erschrecken. Ich bin zwar ein Geist – ein Djinni, wie man mich nennt – aber du hast gewiss bereits bemerkt, dass ich ein freundlicher Geist bin. Ich wurde von der Firma Hexmex in diese Tüte gesteckt, und zwar zu einem einzigen Zweck: Ich werde dir einen Wunsch erfüllen. Natürlich mit allen Nebenwünschen, die sich aus dem Hauptwunsch ergeben, denn was soll man mit Fußballschuhen ohne einen Fußball? Was soll man mit einem Auto, wenn man gar keinen Führerschein hat? Doch: Sieh dich vor! Vorschnell geäußerte Wünsche ziehen nicht selten nur kurze Freude nach sich. Berücksichtige auch dein Alter. Du wirst größer und älter werden, andere Wünsche haben als heutzutage. Aber was es auch sei: hundert Kilo Bonbons, drei Milliarden Talerstücke, ein ewiges Leben, eine Zwei in einer Mathematikarbeit, ich werde es dir gemäß meinen Kräften erfüllen. Nun verschwinde ich wieder. Rufst du mich bei meinem Namen, erscheine ich schneller als ein Gedanke. Und hab keine Angst!“
Der Mann war plötzlich nicht mehr da, so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Der kleine Junge schluckte und sah sich im Zimmer um, erblickte jedoch niemanden mehr. Er fühlte sich, als hätte er das Geschehene nur geträumt.
Zaghaft sammelte er seinen Mut und sagte leise: „Djinni.“
„Du hast mich gerufen, kleiner Mann“, sagte der Geist, „hier bin ich.“
„Ich … ich …“, stammelte der Junge und sah den tadellos gekleideten Djinni mit kugelrunden Augen an, denn ein bisschen Angst hatte er schon. „… ich wollte nur sichergehen, ob du auch echt bist.“
„Ich bin echt“, schmunzelte der Geist, „so echt, wie ein Djinni nur sein kann. Bist du zufrieden?“
„Ja“, sagte der Junge erleichtert, aber da war der Mann schon wieder verschwunden.
Die Großmutter wunderte sich etwas über die Nachdenklichkeit und die ungewohnte Ruhe ihres Enkels, schob es aber auf die Schule und drang nicht weiter in ihn.
Doch der Junge blieb nachdenklich und ernst, auch als er ohne Einschränkungen versetzt wurde. Immerzu grübelte er nach, ob dieses oder jenes die versprochene Erfüllung eines Wunsches wert war, entschied sich aber immer dagegen. Er musste jeden Tag an die Worte des Djinni denken, dass er, der Junge, eines Tages andere Wünsche haben würde. So geduldete er sich und wartete auf die richtige, auf die einzige Gelegenheit.
Er beschloss die Schule achtbar, aber ohne Glanz, und als er in eine Lehre ging, dachte er immer noch jeden Tag an den Geist und an den Wunsch, den der Djinni ihm zu erfüllen versprochen hatte.
Als es für seine Großmutter ans Sterben ging und aus dem kleinen Jungen ein junger Erwachsener geworden war, grübelte er tagelang über einen Wunsch nach, ihr eventuelle Qualen zu ersparen oder sie weitere zahlreiche Jahre leben zu lassen. Aber eines Tages war sie einfach eingeschlafen, und der Enkel, der nun keiner mehr war, begrub sie mit Achtung und hielt ihr Andenken in Ehren.
Einige Zeit später fand er sich in einem Büro sitzend wieder. Er war Rechnungsprüfer geworden. Ab und zu betätigte er eine Rechenmaschine, hin und wieder radierte er Zahlen aus und fügte neue in eine Liste ein; er schrieb Berichte, kandidierte für den Betriebsrat, scheiterte und versuchte es nicht noch einmal. ‚Ich wünsche mich in den Betriebsrat hinein‘, dachte er und fand es fünf Sekunden später lächerlich.
Er speiste mit Arbeitskollegen in der Kantine, ging zweimal im Monat mit ihnen kegeln, fand netten, angenehmen Kontakt, aber keine Freunde, auch eine Frau nicht. ‚Ich wünsche mir eine Frau‘, dachte er, aber wie sie aussehen sollte, fiel ihm nicht ein. Er war regelmäßiger Nutzer der Bibliothek, Mitglied im Numismatik-Verein und besuchte unregelmäßig die Kirche. Er spendete einen festen Teil seines Weihnachtsgeldes für arme Länder, zweimal im Jahr fuhr er in Urlaub, am Geburts- sowie am Todestag seiner Großmutter legte er frische Blumen auf ihr Grab. ‚Ich wünsche mir drei Wünsche‘, dachte er, aber es war ihm klar, dass der Djinni das nicht anerkennen würde. Er pflegte zwei Goldfische ohne Fehl, besuchte den Zahnarzt dreimal im Jahr und benötigte, kaum dass er sein vierzigstes Lebensjahr erreicht hatte, eine recht starke Brille. Er fragte niemals um eine Gehaltserhöhung nach. ‚Ich wünsche mir‘, dachte er, ‚das Geld der ganzen Welt auf mein Konto‘, aber er meinte zu wissen, dass es Wichtigeres gäbe als Geld. Nur was das sein sollte, das wusste er nicht.
‚Was fehlt mir?‘, dachte er und konnte keinen Namen dafür finden. Er ließ sich den Blinddarm und die Mandeln entfernen, trank mäßig Berauschendes, rauchte nur in Gesellschaft. Er sparte monatlich einen gewissen Betrag, interessierte sich leidlich für Sport, ging regelmäßig zur Wahl, zur Vorsorgeuntersuchung, in Theatervorstellungen und zur Betriebsversammlung. Jeden Abend, wenn er allein in seinem Bett lag, dachte er an den Geist und dass er, der Büroangestellte, noch einen Wunsch frei hatte.
Er wurde pensioniert, lebte noch eine Handvoll Jahre so unauffällig wie vordem, und eines Tages, ehe er sich versah, fühlte er sein Ende nahen.
Also verfügte er einen Nachlass, der ihm angenehm war, und verschenkte seine Goldfische an ein Nachbarskind. Sodann legte er sich zu Bett und wartete. Als er die letzte Schwäche an sich nagen fühlte, setzte er sich mühsam auf, holte Atem und sagte: „Djinni.“
„Du hast mich gerufen, alter Mann“, sagte der Geist, „hier bin ich.“
„Du hast lange gewartet“, sagte der Greis, „aber nun sollst du meinen Wunsch erfahren.“
Der Djinni schwieg pietätvoll.
„Ich habe sehr bescheiden gelebt“, resümierte der Sterbende, „ich habe viel entbehrt, ich habe viel vermisst. Wenn ich doch nur wüsste, was. Ich wünsche mir, noch einmal geboren zu werden und ein ganz anderes Leben zu genießen. Ich möchte vielleicht eine Frau haben und einige Freunde. Ich hätte gerne etwas Macht über einige Menschen und ich mag nicht mehr hören, was mir andere befehlen. Ich möchte gerne eine Kunst beherrschen, vielleicht möchte ich ein Buch schreiben oder malen können. Ich möchte ein anderes Haustier haben, ich kann keine Fische mehr sehen – einen schönen und großen Hund möchte ich wohl besitzen. Und ich hätte gerne den Mut, selber über mein Ende zu bestimmen. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaube schon“, sagte der Djinni. „Du möchtest das, was man ein ‚angenehmes Leben‘ nennt.“
„Ja“, sagte der Alte und wurde immer schwächer, „könnte es da Schwierigkeiten geben?“
„Nein“, sagte der Geist, „das ist kein Problem. Nur musst du wissen, dass man niemals in derselben Welt wiedergeboren wird. Ich kann nicht garantieren, dass deine neue Heimat unserer gleicht.“
„Das ist nicht so wichtig“, hauchte der Sterbende. „Aber eins noch: Ich möchte meinen Vornamen behalten, er hat mir immer so gut gefallen.“
„Kein Problem. Wie lautet er?“
„Ich“, sagte der Mann, schon mehr tot als lebendig, „heiße Adolf.“