Ich setze mich hin und atme tief durch. Die Hände auf den Bauch gelegt spüre ich das Kind. Seitdem mir nach dem Erwachen mit Schrecken bewusst wurde, dass Kelly auch stirbt, wenn ich mal wieder einen Tod erleide, prüfe ich regelmäßig, ob sie noch da ist. Dafür brauche ich keinen Ultraschall, ich spüre sie, so wie ich praktisch vom Anfang an weiß, dass es ein Mädchen ist. Ich denke darüber nach, ob ich überhaupt schon gestorben bin, seitdem ich schwanger bin. Ja, in der Tat. Als der Wächter auf mich gefallen ist. Und danach konnte Elaine auf dem Ultraschall eine lebende Kelly sehen. Zwar nur sie, aber ich vertraue ihr, was das betrifft. Und sowieso.
Mir selbst vertraue ich gerade dafür weniger. Es kann nicht sein, dass ich seit zwei Tagen durch diese beschissene Höhlen irre und den See nicht mehr finde. Eigentlich finde ich nichts. Nichts zu essen, nichts zu trinken. Der Proviant ist schon längst aufgebraucht. Das geht selbst mir an die Substanz. Erschöpfung ist keine Verletzung, das heilt nicht einfach so. Vielleicht sollte ich mich mal umbringen, neugeboren wäre ich wieder bei Kräften.
Aber ich traue mich nicht, seitdem mir klargeworden ist, dass ich nicht alleine sterbe.
Als ich aufwachte, war ich erst ziemlich optimistisch. Doch als ich feststellen musste, dass der Drache einige Abbiegungen genommen haben muss, während ich an ihm hing, ohne dass ich es im Eifer des Gefechts mitbekam, sank meine Laune zunehmend, bis sie nach etwa einem Tag am Tiefpunkt angekommen war.
Und dort auch blieb.
Die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, was mit meinen Gefährten ist, macht die Sache nicht besser. Einmal versuchte ich, telepathisch Kontakt aufzunehmen, doch ich konnte die Drachen hören. Demnach die mich auch. Später versuchte ich es noch einmal, doch da hörte ich dann gar nichts mehr. Als würden die Berge Gedanken besser blockieren als Weltengrenzen. Echt toll. Das bedeutet nämlich auch, dass ich mich immer weiter vom See, den Drachen und damit auch von meinen Gefährten entferne.
Während ich sitzend meine Kräfte sammle, denke ich darüber nach, wie es eigentlich sein kann, dass ich nach zwei Tagen Herumirren so fertig bin. Als ich mit Katharina in der Sandwüste der Spinnenwelt unterwegs war, hielt ich mühelos noch länger durch. Entweder trügt mein Zeitempfinden, aber gewaltig, oder es hat einen anderen Grund als die körperliche Anstrengung.
Psychischer Stress? Schon möglich. Es läuft grad schon wieder alles schief. Das nervt einfach nur, aber gewaltig. So richtig zum Kotzen. Wie sollen wir in der riesige Verborgenen Welt den richtigen Drachen finden? Und dann sind die auch noch so unkooperativ. Das ist kein guter Anfang. Ganz und gar nicht.
Ich lege die Hände kurz auf den Bauch, dann erhebe ich mich seufzend und gehe weiter. In der völligen Dunkelheit ist die Orientierung zusätzlich schwierig. Trotzdem mache ich hin und wieder Zeichen, die ich in den Felsen ritze, aber bisher habe ich kein einziges wiedergesehen. Kann sein, dass ich einfach nur zu lange brauche zu Fuß. Ich mag gar nicht daran denken, dass die Höhlen Millionen von Kilometern lang sein könnten …
Ob ich es mit einem Logout versuchen sollte?
Ich traue mich nicht, da ich nicht weiß, was dann mit meiner Umgebung passiert. Das Trancegleiten klappte zwar schon ganz gut, aber da konzentrierten wir uns gemeinsam. Außerdem waren wir eher ruhig als aufgewühlt wie ich jetzt. Ich muss eigentlich aufpassen, dass ich keinen ungewollten Logout verursache.
Während ich durch die Gegend marschiere, stelle ich mir selbst die Frage, nach wie vielen Tagen, Wochen oder Monate ich bereit sein werde, das Risiko eines Logouts einzugehen. Aber ich weiß keine Antwort. Wochen werden es jedenfalls nicht sein, das steht schon mal fest.
Plötzlich fällt mir was auf. Ich konzentriere mich, dann erkenne ich den Ansatz von Licht. Vielleicht sind es nur einige verirrte Pseudophotonen, denn echte gibt es hier ja nicht, die meine Augen getroffen haben, aber auch die müssen eine Quelle haben. Mit etwas Glück den See von vorhin.
Ich gehe weiter, auf das Licht zu. Zwischendurch stolpere ich und schlage mir das Kinn auf. Das ist mir auch schon lange nicht mehr passiert. Ist mir das überhaupt schon mal passiert? Ist nicht weiter schlimm, es wird ja heilen, und zwar ziemlich schnell. Aber mein Zustand ist nicht der beste, wie es aussieht. Am Hunger allein liegt es nicht. Und psychisch? Ja, vielleicht spielt das eine Rolle. Oder es ist alles zusammen. Schließlich bin ich schwanger, nun schon seit 87 Tagen.
Ich muss kurz anhalten und grinsen, weil ich mir vorstelle, wie Katharina wieder sagt, ich hätte einen Computer im Kopf.
Doch dann verschlechtert sich meine Laune noch mehr, falls das überhaupt möglich ist, weil Katharina nicht bei mir ist. Weil niemand bei mir ist. Aber wenigstens habe ich diesen verfickten See wiedergefunden.
Habe ich nicht, stelle ich eine gefühlte Ewigkeit später fest.