Eine Weihnachtsgeschichte

Weihnachten ist eine Zeit der Traditionen. Ich finde Traditionen schön. Sie haben nicht nur etwas Tröstliches, darüberhinaus geben sie Halt, sie bilden Eckpunkte im Strom der vergänglichen Zeit. Das macht dieses Fest für mich so wertvoll, deswegen freue ich mich jedes Jahr sehr, wenn die ersten Adventskerzen angehen, wenn die Innenstädte mit bunten Lichterketten geschmückt werden, wenn die Weihnachtsmärkte öffnen und Weihnachtslieder überall erklingen.
Auch bei uns zu Hause weihnachtet es sehr. Plätzchen werden gebacken, es duftet im ganzen Haus nach Vanille; meist erklingen dabei die bekannten Lieder, bis auf eines, das wird niemals vor Weihnachten gespielt.
Auch das ist eine Tradition.
Am Heiligabend sind wir, wie schon seit einigen Jahren, allein: Marianne und ich. Wir sitzen am feierlich hergerichteten Tisch, prosten uns mit Bordeaux zu, ein Luxus, den wir uns nur an diesem einen Tag des Jahres gönnen. Doch an diesem Tag muss es so sein.
Traditionen sind wichtig.
Erst nach dem Essen werden die Geschenke ausgepackt. Ich freue mich, wie immer, über das Strahlen in Mariannes Gesicht, wenn sie sieht, was in den kunstvoll verzierten Päckchen ist. Eigentlich nichts wirklich Besonderes, denn was kann man sich schenken, wenn man schon alles hat und das, was fehlt, nicht für Geld zu kaufen ist? Aber auch die kleinen Freuden sind wichtig: die neueste CD von Herman van Veen, eine weitere Krawatte, die am Altweiber getragen werden wird, dieses Mal auch eine neue Armbanduhr.
Marianne lacht glücklich, als sie sieht, wie ich mich über die Uhr freue und sie gleich begeistert anlege. Sie fährt durch meine Haare und küsst mich zärtlich auf den Mund. Mir kommen die Worte „… ich habe ein zärtliches Gefühl …“ in den Sinn, genau so geht es mir, genau so fühle ich mich in diesem Moment.
Ein unbeschreiblicher Moment, der ohne Tradition völlig wertlos wäre.
Am ersten Weihnachtstag kommen mein Bruder und meine Schwester mit ihren Familien zum Abendessen. Auch das ist eine Tradition, die lange zurückreicht. Ein wenig erfüllt sie mich mit Schmerz, denn sie macht mir die Vergänglichkeit bewusst. Doch ich weiß, sie werden rücksichtsvoll sein, wie jedes Jahr, nicht länger bleiben als nötig ist, um die Geschenke zu überreichen, auszupacken, in Ruhe zu Abend zu essen und danach noch ein wenig zu plaudern. An diesem Ablauf ändert sich nichts, warum sollte sich auch etwas daran ändern?
Traditionen sind einfach wichtig, sie haben ihren Sinn, ohne wichtigen Grund sollten sie nicht aufgegeben werden.
Als sie sich verabschieden, nimmt meine Schwester mich plötzlich in den Arm und drückt mich ganz fest. „Es tut mir leid, so leid“, raunt sie mir ins Ohr, für die anderen nicht hörbar. Zumindest lässt niemand erkennen, es gehört zu haben.
Ich weiß was sie meint, es ist nicht nötig, dass ich darauf antworte. Ich wüsste sowieso nicht, was ich darauf antworten könnte.
Als ich die Tür hinter ihnen schließe, legt Marianne ihre Arme um mich, von hinten, ihre Wange berührt meine, und sie flüstert: „Wie gut, dass sie fort sind.“
Ich nicke. Ja, es ist gut. Traditionen sind wichtig, sie bilden ein festes Gerüst im Leben eines Menschen, sie dürfen nicht achtlos aufgegeben werden. Fast hätte meine Schwester es geschafft, die wichtigste Tradition in meinem Leben zu zerstören. Es wäre unwiderruflich gewesen, in einem Moment der Unachtsamkeit, des Schmerzes. Ich werde mit ihr reden müssen, damit ihr klar wird, was sie riskiert hat, was sie beinahe getan hätte.
Doch jetzt zählt das alles nicht, jetzt zählt nur eines. Ich drehe mich um und blicke Marianne lächelnd in die Augen.
„Wollen wir ins Bett gehen?“, erkundigt sie sich. „Wir haben nicht mehr viel Zeit, die Weihnachtstage sind so schnell um, morgen noch, und dann ist es wieder vorbei.“
„Ja, das ist wahr.“
Ich hebe sie hoch und trage sie ins Schlafzimmer. Nachdem sie auf dem Bett liegt und lächelnd auf mich wartet, gehe ich zum CD-Spieler und lege die CD ein, die ich nur für diesen einen Abend gekauft habe.
Traditionen sind wichtig.
Und während ich mich zu Marianne lege, erklingt dieses eine Lied.

„Dearest, the shadows
I live with are numberless.“