Erster Teil
Gertrud war siebzehn, als ihre Mutter starb. Die Todesursache war Diabetes. Zehn Jahre später sollte es Insulin geben, das so vielen Menschen, die an dieser Krankheit litten, ein halbwegs normales Leben ermöglichte. Aber damals – man schrieb das Jahr 1912 – waren sie Todeskandidaten. Gertrud stand wie in Trance am Bett ihrer Mutter und blickte starr auf deren bleiches, wächsernes Gesicht. Sie war schön, von einer unschuldigen, fast kindlichen Schönheit. Das braune Haar, das sie sonst der Mode entsprechend hochgesteckt trug, lag in losen Strähnen auf dem Kissen und umrahmte ihr stilles Antlitz.
Plötzlich meinte Gertrud, sie leise atmen zu hören, zu sehen, wie sich ihre Brust ganz sacht hob und senkte. „Sie ist nicht tot, sie lebt!!! Die Ärzte haben sich geirrt!“, wollte sie aufschreien. Ihr war, als verschwände der Boden unter ihren Füßen und die Wände des Zimmers zögen sich zurück, als schwebe sie im leeren Raum, nur sie allein mit ihrer Mutter auf dem Totenbett, allein in einer öden, tiefschwarzen Finsternis. Sie drohte in einen Abgrund zu stürzen, aber ehe dies geschah, empfand sie einen ungeheuren Hunger nach Leben. Er durchzog ihre Adern, zerrte an jeder Faser ihres Körpers mit übermächtigem Sehnen. Gleichzeitig spürte sie einen verzehrenden Schmerz, der sie auszulöschen schien. „Ich will leben, leben! Ich will leben!“, schluchzte sie auf und sank am Bett ihrer Mutter nieder. Sie weinte bis zur Erschöpfung. All die aufgestauten Gefühle des Tages – die verzweifelte Hoffnung, an die sie sich zunächst geklammert hatte, das langsame Begreifen der Endgültigkeit des Abschieds, der Lebenshunger und der unendliche brennende Schmerz – wurden mit der Tränenflut hinweggeschwemmt.
Später setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett der Toten und sank in einen unruhigen Schlaf, der von wirren Träumen begleitet war. Sie sah ihre Mutter, wie sie sie als Kind oft gesehen hatte, im Sessel sitzend, mit einer Handarbeit beschäftigt, still, freundlich zu jedermann, liebevoll zu ihren Kindern. Aber ihre Liebkosungen waren nur flüchtig, sie strich ihren Kindern leicht über das Haar, tätschelte zart ihre Wangen oder hauchte einen kaum spürbaren Kuss darauf, so als wolle sie sie nicht zu stark an sich binden, als ahne sie, dass sie früh von ihnen gehen würde. Sie vertiefte sich in ihre Stickerei. Unter ihren Händen entstanden kunstvolle Tischdecken, die man überall im Haus auf Tischen, Truhen und Kommoden bewundern konnte. Und noch viele Jahre später, als längst Kunststoffe und maschinell bedruckte Tücher benutzt wurden, sollte sich ihre Enkelin Anna daran freuen, wenn sie diese Kunstwerke bei festlichen Gelegenheiten aus dem Schrank holte. Sie war immer ein wenig müde, still und geduldig, jeder hatte sie gern. Die Krankheit, die ihr ständiger Begleiter war, ließ sie dem Leben mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit begegnen. Sie liebte ihre Kinder, sie liebte ihren Mann, aber es war ihr stärker als anderen Menschen bewusst, dass sie ihr nur für eine kurze Zeitspanne ihres Lebens gegeben waren.
In ihrem Traum war Gertrud wieder das kleine Mädchen, das zu den Füßen der Mutter saß und sich in ihren Rock kuschelte. Doch plötzlich entfernte sich ihre Mutter auf rätselhafte Weise, sie wurde durchsichtig, immer kleiner und schien ganz zu verschwinden. „Mama!“, schrie Gertrud auf, das Wort ihrer Kindertage benutzend, und erwachte vom Klang ihrer eigenen Stimme. Sie rieb sich die Augen. Es dämmerte. Sie fühlte sich verlassen und allein. So sollte es ihr Leben lang bleiben. In Stunden tiefer Verzweiflung und Niedergeschlagenheit war sie immer allein.
Gertrud hatte einen Sinn für das Praktische, und sie hatte die Fähigkeit zu Beherrschung und Disziplin, was ihr Wesen und ihre Gefühle betraf. Damit konnte sie später manche Krise in ihrem Leben bewältigen. In der gegenwärtigen Situation halfen ihr diese Eigenschaften, die Trauer und die Ängste der Nacht in ihrem Herzen einzuschließen und sich den Dingen zuzuwenden, die nun erledigt werden mussten. Sie ging in die Küche, wo sie Fine, die Hausangestellte, schon am Herd hantieren hörte.
„Ach, Fräulein Gertrud, mein Beileid“, sagte die Frau mit unsicherer Stimme und wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. Sie war schon lange in der Familie. Gertruds Mutter hatte sie mitgebracht, als sie vom Rhein nach Braunschweig heiratete. Fine hatte die Kinder aufwachsen sehen. Aus Treue zu ihrer kranken Herrin hatte sie nie geheiratet. Inzwischen war sie ein ältliches Mädchen geworden, mit scharfen Zügen und abgearbeiteten Händen, aber ihre Augen waren voller Güte und Verstehen. Ohne die Hoffnung auf einen Mann und eigene Kinder hatte sie ihre Herrschaft zu ihrer Familie gemacht.
„Der Herr Geheimrat hat die ganze Nacht Licht in seinem Zimmer gehabt. Er hat sicher gar nicht geschlafen“, redete Fine weiter, als sie Gertrud eine Tasse Kaffee hinstellte. „Der wird Ihnen gut tun, Fräulein Gertrud. Ach, wie schrecklich, dass die gnädige Frau so früh sterben musste, mit neununddreißig Jahren.“
„Ja, Fine, es ist für uns alle ein großes Unglück“, antwortete Gertrud mit einer fast steifen Förmlichkeit. Man ließ sich vor den Dienstboten nicht gehen, auch wenn sie schon so lange im Haus waren wie Fine. Das gehörte sich nicht. „Deck den Frühstückstisch, ich werde nach meinem Vater und meinem Bruder sehen.“