(Un-)geplante Aktivitäten
auf heißem Sand
Ich schreibe dir, obwohl die meisten Informationen überflüssig sind, weil sie entweder mitteilen, was du ohnehin bereits weißt oder nichts Mitteilenswertes beinhalten. Aus diesem Grunde lasse ich mein Erstaunen über unsere Wiederbegegnung nach über 20 Jahren unerwähnt. Ich wusste sofort, dass du die bist, die du bist, bzw. warst und die Tatsache, dass ich dich am Buffet im Speisesaal mit ‚Sie‘ angeredet habe, war reine Lust am Verwirrspiel. Ich hätte dich auch einfach bei der Hand nehmen können und sagen „Komm, lass uns miteinander spielen und die anderen vergessen“, also genau daran anknüpfen, wo wir damals aufgehört haben. Die Wand aus Zeit hätte ich weggeschoben durch diesen einzigen Satz. Unsere Spiele wären natürlich andere gewesen, doch was hätte das schon ausgemacht?
Wir beide bemühten uns damals nicht darum, den Kontakt zu halten. Mein Schul- und späterer Stadtwechsel war das Ende all dessen, was zwischen uns war. Zwei Ebenbürtige, zwei seelische Zwillingsschwestern trennten sich genauso abrupt, wie sie sich gefunden hatten. Vom ersten Augenblick unserer Begegnung – ich kam neu in deine Klasse und setzte mich auf den freien Platz neben dir, füllte die Lücke, die ein anderes Mädchen, deine verzogene Busenfreundin, hinterlassen hatte – war es eine undiskutierte Tatsache, dass wir zusammengehören, selbstverständlich, ohne Wenn und Aber.
Unsere gemeinsame Zeit lehrte mich zweierlei: erstens, dass Nähe möglich ist und zweitens, dass sie nicht von Dauer sein kann. In den ganzen Jahren habe ich ehrlicherweise kein bisschen an dich gedacht, ich hatte dich vergessen, bis zu dem Moment, als ich dich im Speisesaal stehen sah.
Du weißt nichts darüber, wie mein Leben verlaufen ist und daran wird sich nichts ändern, auch wenn du darunter leidest. Abzureisen, ohne einen verrätselten Zettel für mich an der Rezeption abzugeben, hast du nicht geschafft. Diesmal hast du dir vorgenommen, mich nicht so einfach verschwinden zu lassen. Diesmal bist du die Aktive, die Werbende. Mit welchen Augen du meine geplanten und ungeplanten Aktivitäten auf heißem Sand verfolgt hast! Die Frage, wie du lebst und liebst, wurde dadurch hinfällig. Und ich würde, wenn ich etwas mutiger wäre, genauso lieben, zumindest ein einziges Mal, sonst hätten deine Augen nicht meine nackte Haut verbrannt und das schlimmer als jede Sonne, sonst wären meine Aktivitäten nicht völlig aus den Fugen geraten.
Dieser Sand, dieser zu heiße, blendende Sand, in den ich mich einbuddelte, um mich vor deinen Blicken zu schützen. Diese weißen Körner, die ich durch die Zwischenräume meiner Finger immer wieder von Neuem rieseln ließ, um wenigstens etwas zu tun, um gleichgültig zu erscheinen, während du mit einem Buch in diskreter Entfernung auf deinem Badetuch lagst und ab und zu in meine Richtung sahst. Nur nicht zu oft, sonst hätte es auffallen können und ist mir dennoch nicht entgangen. Was hat dich gehindert, aufzustehen und dich neben mir niederzulassen? Etwa die Tatsache, dass ich keine Fremde für dich bin, sondern eine Art verstaubte Heiligenfigur aus deiner Kindheit? Hätte ich dich mit deinem Vornamen rufen sollen, um den Zauber unseres Versteckspiels zu durchbrechen?! Meist bereut man es mehr, gewisse Dinge nicht getan zu haben als die falschen Dinge getan zu haben. Seit jenen trägen Urlaubstagen quält es mich, dass ich die Chance verpasst habe, einer Frau auch körperlich näher zu kommen, deine Einwilligung vorausgesetzt. Und du, was denkst du darüber? Gefallen habe ich dir damals als junges Mädchen und heute als Frau in den sogenannten besten Jahren. Und es wäre so einfach gewesen, selbst am Strand hätte uns kaum jemand dabei gestört. Nichts hätte ich von dir wissen wollen, weder deine Studien, noch deine Jobs, noch deine Interessen, Beziehungen und Bezüge. Beide sind wir erfolgreich allein geblieben, zumindest innerlich, auch wenn wir Beziehungen mit anderen leben. Ob mit Männern oder mit Frauen spielt in dieser Hinsicht keine Rolle. Beide segeln wir mehr oder weniger haltlos durch die Welt mit einer Sehnsucht nach einer grenzenlosen Nähe, nach einem ungebrochenen, gegenseitigen Verstehen. So wie du mir gleichst, gleicht mir keine andere, weswegen ich von dir etwas will, was ich von keiner anderen will. Du hättest mich küssen und dann gehen lassen können, bzw. selbst gehen, unsere Begierde hätte sich mit den Sandkörnern vermischt, ohne dass es das Nachspiel gegeben hätte, das sich gemeinhin „Beziehung“ nennt. Freundinnen wären wir auf jeden Fall geblieben, auch wenn wir uns danach für eine lange Zeit nicht mehr gesehen hätten. Es hätte mir gefallen. Ich hätte es dennoch nicht wiederholen wollen. Nachdem wir es getan hätten, wären wir erschöpft nebeneinander eingeschlafen, ohne ein einziges Wort gewechselt zu haben. Die Sonne hätte unsere Lust getrocknet und alle Spuren entfernt. Nichts wäre zurückgeblieben. Du hättest eine weitere Frau berührt und ich hätte eine neuartige Erfahrung gemacht und das ausgerechnet mit meiner alten und neuen Zwillingsschwester.
Stattdessen verstrichen die Urlaubstage eintönig. Wenn ich nicht am Strand lag, ging ich auf meeresfeuchtem Sand spazieren. Manchmal drehte ich mich um, betrachtete die Abdrücke meiner Füße, bevor sie weggespült wurden. Zum Schwimmen war es mir zu kühl. Ich passte auf, dass ich nicht auf gestrandete Quallen trat. Dabei fielen mir immer wieder Muscheln auf. Ich hob gelegentlich eine auf, drehte und wendete sie und warf sie weg. Eines Tages lagst du nicht im gewohnten Abstand zur gewohnten Zeit am Strand, was mich beunruhigte. Ich hatte mich mittlerweile an deine zierliche, lesende, von Tag zu Tag dunkler werdende Gestalt gewöhnt. Auch an deine Blicke, die mich durcheinanderbrachten. Als ich ins Hotel früher als sonst zurückkehrte, wurde mir an der Rezeption dein Zettel überreicht, mit deiner Anschrift, der Mitteilung deiner Abreise und deinem Wunsch, etwas von meinen (un-)geplanten Aktivitäten auf heißem Sand zu erfahren. Als ob du geahnt hättest, was ich mir vorgestellt habe, welche Fantasien mich beschäftigten! Hiermit weißt du alles und bekommst einen absenderlosen Brief. Die meisten Träume sind überflüssig, weil sie entweder wiederholen, was du bereits erlebt hast oder weil sie Unlebbares beinhalten.
Für die nächsten 20 Jahre wünsche ich dir alles Gute!