Leseprobe: Fiona – Traumtanz (Die Kristallwelten-Saga 13)

Es sieht wie ein Netzwerk aus. Eigentlich ist es ja auch eins. Die Wurzeln bilden Netzwerkknoten, aus ihnen werden mal die bewohnten und unbewohnten Welten, so wie die Wurzel des Erdenbaums ein Netzwerkknoten war, von dem aus viele Verästlungen in die anderen Welten führten. Die Verästlungen sind bereits erkennbar, sie durchziehen wie Adern die rudimentäre Verborgene Welt, durch die unser Raumschiff fliegt. Irgendwann, später, in der Gefrorenen Welt, die noch nicht existiert, werden sie die Ewigen Türme bilden.
So ist das mit dem Dualismus.
Ich beobachte die Monitore auf dem „Thron“ sitzend, dem Sessel des Captains. Sonst sind nur Katharina und Kian da, sie spielen auf dem Boden sitzend Memory.
Wie findet man Drachen in einer Welt, die so groß ist, dass sie praktisch unendlich ist? Die Verborgene Welt, die früher die Gefrorene Welt umgab wie ein Uterus, kennt die klassischen Grenzen einer materiellen Welt nicht. Hier zeigt sich auf jeden Fall die Komplexität unseres Universums im Vergleich zum anderen Universum, in dem Kian gezeugt und geboren wurde.
Dabei ist jenes Universums schon komplex genug, wie ich inzwischen feststellen durfte. Ich glaube sogar inzwischen, dass ich nur einen kleinen Teil jenes Universums kenne, weit weniger, als ich vor gar nicht so langer Zeit noch zu kennen dachte. So kann man sich irren.
Ich sollte mich jetzt eher auf dieses Universum konzentrieren. Wir müssen den ältesten Drachen finden, damit es weitergeht. Bis jetzt haben wir aber überhaupt keinen Drachen gefunden, nicht einmal ein Anzeichen dafür, dass es sie wirklich gibt, auch wenn Drachenkind es anders behauptet hat.
So eine Scheiße.
Plötzlich geht die Tür auf und Nidea kommt hereingestürmt. Sie heult und zittert.
„Ich bringe sie um!“, schreit sie.
Ich laufe zu ihr, lege die Arme um sie und führe sie zur nächstbesten Sitzgelegenheit. Dort sitzt normalerweise der Navigator, aber im Moment lassen wir Newope II autonom durch das Weltall streifen.
Nachdem sie sich gesetzt hat, erkundige ich mich, wem denn dieses unerquickliche Schicksal drohe, obwohl ich so eine Ahnung habe.
„Meiner Mutter!“
„Wieso denn?“, fragt Kian, vor uns stehend. Er starrt Nidea aus großen Augen an. „Oela?“
Nidea holt tief Luft, was sich mit dem Weinen nicht so gut verträgt, das beschert ihr einen Hustenanfall. Katharina kommt mit Wasser. Nidea trinkt einige Schlucke, dann sieht sie Kian an.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Hast du nicht“, erwidert mein Süßer. „Willst du sie wirklich umbringen?“
Nidea schüttelt den Kopf. „Ich bin nur so furchtbar wütend und habe dumme Dinge gesagt.“
„Das verstehe ich“, antwortet Kian. „Wenn ich wütend bin, sage ich auch blöde Sachen. Aber ich würde nie meine Mama umbringen wollen. So wütend war ich noch nie.“
„Okaaay“, sage ich. „Das finde ich gut.“
„Ich auch. Wolltest du mich schon mal umbringen?“
„Nein! Das wird niemals passieren!“ Ich gehe vor Kian in die Hocke. „Hör zu, Nidea meinte das nicht so und Oela wird sie auch nicht umbringen wollen. Wenn man wirklich, wirklich wütend auf jemanden ist, sagt man schon mal Dinge, die man nicht ernst meint und hinterher bereut. Aber nicht alle sagen dasselbe.“
„Ist gut.“
Jetzt atme ich tief durch. Wann werde ich wohl darüber hinweg sein? Vermutlich niemals.
„Was ist passiert?“, erkundigt sich Katharina in die entstandene Stille hinein.
„Wir … wir haben uns gestritten.“
„Scheint ein bisschen mehr als das gewesen zu sein.“
Nidea nickt langsam.
„Soll ich mit ihr reden? Oder Fiona?“
„Oder ich“, bietet sich Kian auch an.
Nidea lächelt schwach. „Das ist lieb von dir, Kian. Aber ich glaube, deine Mütter können sich besser reindenken.“
Kian stutzt. Ich auch. Seine Mütter? Ich meine, das stimmt schon irgendwie, aber es ist dennoch etwas unerwartet. Und auf jeden Fall ungewohnt.
„Du solltest das tun“, sagt Katharina. „Vielleicht zusammen mit Ryema.“
„Wieso nicht mit dir?“
„Eine Mutter muss auf Kian aufpassen.“
„Genau“, bestätigt der Kleine.
Ich sehe Nidea fragend an. Als sie nickt, erhebe ich mich und gehe mit ihr. Aus der Tür winke ich der zweiten Mutter und meinem Sohn zu, dann gehen wir Ryema suchen. Was mit Lauras Hilfe keine besondere Herausforderung darstellt.
Sie ist auf dem Sportdeck und trainiert mit Ona und Margret.
Was zum …?
Sie sieht Nidea und kommt angeschossen.
„Was ist passiert?“
„Sie hatte einen Streit mit ihrer Mutter und kam völlig aufgelöst auf die Brücke“, erkläre ich. „Ich möchte mit Oela reden und hätte gern, dass du dabei bist.“
„Klar“, antwortet sie, ohne zu zögern. Dann schaut sie Nidea an. Diese nickt. Und wirft einen Blick auf die beiden Mädchen.
„Viel Glück“, sagt Margret.
Wieder hilft uns Laura, diesmal, um Oela zu finden. Sie ist auf der Aussichtsplattform, sitzt in einem der Sessel mit einem Glas in der Hand und starrt nach draußen.
Wo es nicht mehr ganz so dunkel ist wie früher.
Als wir das Deck betreten, schaut sie kurz in unsere Richtung, dann wendet sie sich wieder ab. Ryema und Nidea setzen sich links von Oela. Ich besorge erst noch Getränke. Nidea will nur Wasser, ich nehme einen Caipi und Ryema trinkt Gin Tonic.
Niemand sagt etwas, bis ich mich rechts von Oela hinsetze.
Und danach auch nicht. Für eine ganze Weile.
Gewohnheitsmäßig bin ich diejenige, die als Erste den Mund aufmacht.
„Ich kann das nicht.“
„Was?“, fragt Ryema erstaunt.
„Begreifen, dass meine Hilfe nicht nötig sein soll.“
In Oelas Gesicht regt sich kein Muskel. Nichts. Absolut nichts. Dabei weiß ich, dass sie es genau verstanden hat.
„Liebe Fiona, kannst du bitte wenigstens jetzt mal aufhören, in Rätseln zu sprechen?“
„Oela hat es verstanden“, erwidere ich.
„Ich fürchte, ich auch“, sagt Nidea düster.
„Was kein Wunder wäre“, bemerke ich.
Nideas Blick durchbohrt mich förmlich. Wie gut, dass ich gegen so was völlig immun bin.
„Geht einfach“, sagt Oela plötzlich.
„Nicht möglich“, entgegne ich.
„Wieso nicht? Ganz ehrlich, es geht dich wirklich nichts an.“
„Oela?“ Das ist Ryema und sie wirkt noch erstaunter als vorhin. „Oela, weißt du, wer ich bin?“
„Wie könnte ich es nicht wissen?“
„Warum sagst du mir dann, ich soll gehen? Ganz ehrlich, irgendwann ist es auch mit meiner Geduld vorbei. Ich schaue mir das schon seit Jahren an. Mir ist klar, was du durchmachst …“
„Ach ja?“, unterbricht Oela sie.
„Zweifelst du daran? Ausgerechnet du? Als wenn du nicht wüsstest, was ich erlebt habe. Wenn nicht ich, wer dann soll dich verstehen?“
Oela zuckt die Achseln und nippt an ihrem Getränk.
„Fiona ist hier, weil Nidea zu ihr gegangen ist. Wir wissen beide nicht, was zwischen euch vorhin vorgefallen ist, aber ich weiß, dass Nidea das nicht verdient hat. Sie ist ein tolles Mädchen und eine besondere Tochter.“
„Weiß ich.“ Oela starrt nach draußen.
„Und warum zeigst du es ihr dann nicht?“, erkundige ich mich.
„Das verstehst du nicht.“
„Echt jetzt?“ Ich spüre, wie mein Puls in die Höhe schnellt. „Ist das wirklich dein Ernst? Oela, ich mag dich eigentlich, sehr gern sogar, aber im Moment würde ich dich am liebsten so richtig durchprügeln.“
„Tue dir keinen Zwang an.“
Ich atme tief durch. Und noch einmal. „Okay, hör zu. Du denkst also, ich verstehe das nicht? Ich gebe zu, du bist die Königin des Schmerzes und des Leidens. Du hast eine Raumstation vernichtet, in der nicht die Soldaten waren, wie du dachtest, sondern Frauen und Kinder? Hunderte? Ja, das ist echt voll scheiße. Definitiv. Das ist so was von scheiße. Es kann einen depressiv machen. Wirklich. Aber weißt du, was einen noch depressiver machen kann? Für den Tod eines ganzen Universums verantwortlich zu sein.“
Oela starrt mich an.
„Da staunst du, was? Ist dir eigentlich je in den Sinn gekommen, wie ich mich fühlen müsste? Garoan hat mich ausgetrickst wie ein kleines Schulmädchen und meine, meine!, Energie genutzt, um seinen verfickten Plan zu Ende zu bringen. Verdammt, was glaubst, wer von uns beiden würde einen Wettbewerb ‚Wer hat die größere Scheiße gebaut?‘ gewinnen? Du?“
„Eindeutig du“, sagt Ryema. „Gerade in diesem Moment.“
Ich schließe kurz die Augen. Ganz nach Plan läuft es nicht, und ich bin mir auch nicht so ganz sicher, wessen Therapiestunden das hier ist. Aber scheiß drauf, zurück geht es eh nicht mehr.
„Tut mir leid“, murmele ich.
„Entschuldige dich nicht dauernd“, sagt Nidea.
Dieses Biest. Jedenfalls hat sie ein gutes Gedächtnis.
„Also schön“ sagt Oela nach einem Moment. „Und jetzt? Erwartet ihr wirklich, ihr müsst nur eine Ansprache halten und alles ist wieder gut?“
„Natürlich nicht“, antwortet Ryema. „Aber warum lässt du uns nicht helfen? Wir sind deine Freunde. Oder siehst du das anders?“
Oela öffnet den Mund, doch sie sagt nichts. Stattdessen schüttelt sie den Kopf.
Ich setze zu einem zweiten Versuch an. „Okay. Auch wenn sich das nach einem Wettbewerb anhört … Damals, nach der Sache im Flugzeug, habe ich mich auch lange dagegen gesträubt, eine Therapie zu machen. Am Ende habe ich sie aber gemacht. Ich will nicht sagen, dass danach alles gut war, aber es hat trotzdem viel gebracht. Schon allein, dass ich darüber mit jemandem reden konnte, der nichts damit zu tun hatte und der einfach nur zuhörte und die richtigen Fragen stellte.“
„Bloß redest du gerne, ich nicht.“
Autsch. Das tut weh.
„Das war unfair“, stellt Ryema fest.
„Ja, das stimmt.“ Aber keine Entschuldigung.
„Du kannst auch schreien. Oder schweigen. Schweigen ist nicht Nichtssagen.“
„Wenn du es weißt, warum probierst du es nicht mal aus?“
„Das zweite Mal“, sagt Ryema. „Willst du deinen eigenen Rekord brechen?“
Oela antwortet nicht. Sie starrt wieder nach draußen und nippt an ihrem Getränk.
„Was war überhaupt vorhin los?“, erkundige ich mich.
„Wir haben diskutiert“, antwortet Oela.
„Diskutiert?“, erwidere ich. „Nidea kam völlig aufgelöst und weinend auf die Brücke. Eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter stelle ich mir anders vor.“
„Manchmal ist es eben etwas heftiger. Hattest du nie eine Diskussion mit deiner Mutter? Fällt mir schwer, das zu glauben.“
„Natürlich hatte ich Diskussionen. Um alles mögliche. Wie lange ich ausbleiben darf, Hausaufgaben und so weiter. Ich habe nach einer Diskussion nie geheult. Geheult habe ich meist nach einem Streit mit meinem Vater und ganz selten nach einem Streit mit meiner Mutter. Aber nie nach einer Diskussion.“
„Ich habe sie gefragt, ob sie mich jemals wieder umarmen wird“, sagt Nidea leise.
Fuck. Ich habe schon vermutet, dass meine Interventionen nicht ganz unbeteiligt waren, aber das hört sich ganz danach an, dass sie sogar in gewisser Weise als Auslöser gewirkt haben.
Nun gut. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Das Aufbrechen von Krusten kann halt wehtun. Ich weiß das.
„Auf die Antwort bin ich ja gespannt“, bemerkt Ryema.
„Ich auch“, erwidert Nidea. „Sie ist ausgeflippt. Ich weiß gar nicht mehr, was alles kam. Ich wäre undankbar und dass ich ja zu Fiona oder Ryema gehen könnte, wenn ich eine Umarmung brauche.“
Noch mehr fuck. Das nennt man wohl Eifersucht, aber ich werde mich hüten, es laut zu sagen.
„Das nennt man Eifersucht“, stellt Ryema fest.
Auch gut. Sie darf das dann wohl. Zumindest schätzt sie es so ein.
„Ryema, hör jetzt lieber auf.“ Oela klingt, als würde sie gleich explodieren.
„Sonst was? Meine Liebe, kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie wir Leibgardisten bei meinem Vater waren? Was so ziemlich niemand von uns wusste. Wie auch immer. Und dass ich dich ausgebildet habe. Und was wir damals so alles gemeinsam angestellt haben? Ich erinnere mich zum Beispiel an so eine Winternacht. Es war klirrend kalt und alles weiß vom Schnee. Wir sollten in irgendeinem Dorf einen Werwolf zur Strecke bringen und legten uns auf die Lauer. Auf einem Baum, recht weit oben. Uns war kalt und langweilig und wir haben uns aufgewärmt, gegenseitig.“
Nidea und ich starren Ryema an. Ich wusste ja, dass sie und Oela früher eine sehr innige Beziehung hatten, bevor ihre Männer ins Spiel kamen, aber dass sie das jetzt so erzählt?
„Was wird das denn?“, erkundigt sich Oela. „Willst du mich mit alten Erinnerungen sentimental machen? Mich?“
„Wenn es klappen würde, wäre es jedenfalls eine hilfreiche Nebenwirkung.“ Ryema lächelt leicht. „Eigentlich wollte ich dir nur in Erinnerung rufen, mit wem du hier redest. Mal ganz abgesehen von der völlig sinnlosen Drohung, bin ich vermutlich der Mensch in allen möglichen Universen, der dich am besten kennt. Stimmst du zu?“
Oela runzelt die Stirn, sagt aber nichts.
„Auch gut. Du widersprichst mir nicht. Das bedeutet bei dir in so einem Fall Zustimmung. Ich gehe davon aus, dass ich deine Freundin bin. Wahrscheinlich die beste.“
„Oder die einzige?“, rutscht es mir raus. „Sorry …“
„Wieso entschuldigst du dich dauernd?“, fragt Nidea.
„Weil ich manchmal Sachen mache, die ich eigentlich gar nicht machen möchte. Das liegt an meinem Temperament. Bei mir ist das normal, war schon immer so. Habe ich euch schon erzählt, wieso ich mit Kampfsport angefangen habe?“
Nidea zuckt die Achseln. „Ich meine, ja, aber erzähl es ruhig nochmal. Vielleicht wissen es nicht alle.“
„Okay. Als Kind habe ich Ballett gemacht. Und ich hatte lange Haare. Irgendwann waren sie sogar länger als deine, Ryema.“
„Wow!“
„Ja, genau. Und eines Tages hat ein Mitschüler, der hinter mir saß, herausgefunden, dass man mich wunderbar damit ärgern kann, wenn er an meinen Haaren zieht. Ich habe ihn gewarnt. Einmal … zweimal … dreimal. Beim vierten Mal bin ich über den Tisch auf ihn gesprungen, mitten im Unterricht, und habe ihn verprügelt. Und dabei seine Nase gebrochen. Als meine Mutter mich beim Rektor abgeholt hat, hat sie mich verteidigt. Im Auto meinte sie dann allerdings, dass es dumm von mir war. Ich sah das zwar anders, aber ich hatte auch das Gefühl, meine Wut nicht unter Kontrolle zu haben. Und als wir an einem Dojo vorbeifuhren, beschloss ich, lieber zu kämpfen statt zu tanzen. Erst einmal musste ich mit meiner Mutter kämpfen, damit sie es erlaubte. Sie sah ihre Tochter wohl lieber im Tütü als im Karate Gi. Mein schlagendes Argument war am Ende, dass ich mit Kampfsport meine Aggressionen in Griff kriegen würde. Was letztlich auch gestimmt hat.“
„Eine wirklich schöne Geschichte“, sagt Oela mit einem nur ganz leicht spöttischen Unterton. „Und keine Frage, kampftechnisch bist du uns wahrscheinlich sogar überlegen. Aber warum hast du uns das jetzt erzählt?“
„Man kann sich ändern, wenn man will.“
„Das war jetzt aber sehr billig“, bemerkt Ryema.
„Okay, das ist wahr. Aber hey, ich habe eine gute Ausrede. Ich bin schwanger.“
„Das ist eine Ausrede?“ Oela zieht eine Augenbraue dezent hoch. „Okay, Leute, jetzt mal im Ernst. Ich weiß es zu schätzen, dass ihr euch Sorgen um mich macht. Und ich weiß, dass ihr das auch so meint. Aber mal ehrlich, was genau erhofft ihr euch von diesem Gespräch?“
„Ehrliche Antwort?“, erwidere ich.
„Sicher.“
„Als Nidea vorhin auf die Brücke kam, hat sie mich an mich erinnert, an meinen Zustand nach einem Gespräch mit meinem Vater. Ich sah regelmäßig so aus.“
„Fällt mir schwer, das zu glauben“, sagt Ryema.
„Weil du ihn erst kennengelernt hast, nachdem er sich geändert hat. Um genau zu sein, hat er vor allem sein Verhalten mir gegenüber verändert. Jedenfalls, das ist das Eine. Und außerdem fand ich es nicht schön, als Nidea anfing, gegen Halpha zu stänkern, weil ich die beiden anders kannte. Wir hatten ein, zwei Gespräche. Und beides zusammen führte wie von selbst dazu, dass ich handeln musste. Aber ich hatte kein konkretes Ziel dabei. Eine Hoffnung, das ja. Mit dem Wissen um die äußerst niedrige Wahrscheinlichkeit der Erfüllung. Aber hey, ich weiß jetzt von eurer romantischen Veranlagung. Von wegen schneebedeckte Landschaft in einer Winternacht …“
„Ja, das kannte ich auch noch nicht“, sagt Nidea. „Um ehrlich zu sein, wollte ich es auch gar nicht wissen.“
„Ja, man neigt dazu, peinlich berührt zu sein, wenn man feststellt, dass die eigenen Eltern auch sexuelle Aktivitäten entwickeln.“
„Oh mein Gott!“, ruft Nidea.
„Welcher denn?“, erkundige ich mich.
„Egal!“
„Dann such dir einen aus. Oela, hör zu. Ich meinte das ernst, dass ich dich mag. Und du hast, wie alle anderen auch, das gute Recht, deine eigenen Traumata zu pflegen. Jedem seine PTBS und so. Dennoch fände ich es schön, wenn du Lust bekommen könntest, dich den Dämonen zu stellen. Ob du dann zu Ryema gehst, zu mir oder zu Katharina, die das immerhin sogar studiert hat, ist mir egal. Ich kann nur sagen, dass ich viel Übung darin habe, alle Arten von Dämonen zu jagen. Und noch was.“
„Noch mehr?“, stöhnt Oela.
„Nur noch das. Wenn du deine inneren Dämonen mal erledigt hast und dennoch so wenig redest, ist das völlig in Ordnung.“
Sie grinst. Sie grinst tatsächlich! Ryema und Nidea auch, aber das ist keine große Sache. Doch dass Oela grinst …!
„Weil du dann mehr Redezeit hast?“, fragt Nidea.
„Das hättest du jetzt nicht laut sagen müssen“, erwidere ich und spiele die Beleidigte.
„Du hast es ja provoziert. Nun gut. Ich weiß nicht, ob das alles wirklich was gebracht hat, aber es fällt mir nur noch ein Drittel so schwer wie vorhin, keine Maschinenpistole zu nehmen und alles zu erschießen, was mich blöd anmacht.“
„Das ist durchaus ein Erfolg“, sagt Ryema. „Und der Rest ergibt sich vielleicht auch noch. Oder?“ Sie sieht Oela an. Die diesmal nicht ausgeflippt bei der Andeutung, sie sollte eine Therapie machen. Immerhin.
„Vielleicht“, erwidert sie achselzuckend.
„Wenn wir ein Holodeck hätten, würde ich euch ja anbieten, eine Winterlandschaft im private mode generieren zu lassen.“
„Äh …“ Ryema starrt mich an. „Das ist lange her. So tickt nur ihr drei.“
„Wir drei? Ach so, du meinst Sarah. Eure Entscheidung. Ich bin da frei von moralischen Urteilen. Dafür musste ich zu viel Scheiße mitmachen.“
„Wir haben auch viel mitmachen müssen“, erwidert Ryema. „Und mit Moral hat es, zumindest bei mir, nichts zu tun. Nur mit Roek.“
Ich verzichte auf einen Kommentar. Der könnte nur überflüssig sein, egal, was ich sage. Klar, für sie ist der Tod von ihrem Mann nur einige Wochen, vielleicht auch Monate, her. Jedenfalls nicht wirklich lange. Und gerade ich verstehe das. Ich hatte ja Monate nach James´ Tod noch Ausfälle. Selbst jetzt ist das ein ganz beschissenes Gefühl. James und Askan …
Verdammt.
Ich wische die Tränen ab, bevor es richtig schlimm wird.
Nidea sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wieso weinst denn du?“
„James. Askan“, sagt Ryema leise. „Ich verstehe das. Und Fiona frisst nicht alles so in sich hinein wie ich.“
„Oder wie meine Mutter.“
Ryema nickt nur, Oela reagiert nicht. Und ich erhebe mich.
„Also gut, ich gehe wieder auf die Brücke. Und denk dran, Oela, Katharina hat Psychologie studiert. Sie könnte dir helfen.“
Diesmal nickt Oela. Ich spaziere zum Aufzug und heule erst los, als mich niemand mehr sieht. Bis auf Laura. Und die hält den Aufzug einfach an. Ob sie vielleicht wirklich einen Emotionschip hat?