Leseprobe: Fiona – Gefühle (Kristallwelten-Saga 3)

Was zum Teufel tue ich hier überhaupt? Zu Hause warten James und Danny, und ich stehe hier vor einer Bank herum. Ein paar Meter weiter kotzt sich ein Polizist aus.
Die Sonne scheint, ein herrlicher Spätfrühlingstag.
„Was ist mit euch los?“, erkundige ich mich.
„Komm mit rein, dann weißt du es“, erwidert Ben ungewohnt kurz angebunden.
Ich folge ihm in die Bank. Die Fenster sind abgedunkelt, drinnen Scheinwerfer aufgestellt. Spurensicherer und Ärzte sind schon da. Für die Ärzte gibt es nicht so viel zu tun, für die Spurensicherer umso mehr. Und weil sie schon mal da sind, helfen ihnen die Ärzte. Zu helfen gibt es für sie eine Menge.
Überempfindlichkeit gehört nicht zu meinem Wesen, im Gegenteil. In der kurzen Zeit meines bisherigen Wirkens als Kriegerin hatte ich sehr häufig Gelegenheit, ziemlich unappetitliche Dinge zu sehen. Aber der Anblick, der sich mir hier bietet, lässt meinen Magen rotieren. Zwar nur kurz, aber es reicht, dass Ben die Augenbrauen hochzieht.
„Alles in Ordnung, Fiona?“
Ich nicke. „Geht schon wieder. Ich war nur nicht darauf vorbereitet.“
„Niemand von uns war darauf vorbereitet.“
„Ich weiß.“
Die Bank wurde überfallen, das ist eindeutig. Ob auch Geld mitgenommen wurde, ist mir noch nicht bekannt. Aber wie es aussieht, hat niemand von den Kunden und Mitarbeitern überlebt. Sie wurden nicht erschossen, sie wurden auch nicht erstochen, nicht einmal erschlagen. Sie wurden zerfetzt. Einige von ihnen sehen aus, als wären sie teilweise aufgegessen worden. Auf dem Boden liegen Körperteile herum, die Bissspuren aufweisen.
Überall ist Blut.
Auch an der Wand gegenüber den Kassen. Dort hat jemand mit Blut hingeschrieben: Snow White was here.
„Schneewittchen?“ Ich starre Ben fragend an. Er zuckt nur die Schultern.
„Na schön. Hier waren also ein paar Irre am Werk. Und du meinst, das ist ein Fall für mich?“
„Siehst du das anders?“
Ich seufze. „Ben, nicht alle Irren sind übermenschlich. Ich kenne Typen, die sind ziemlich menschlich und würden trotzdem so was veranstalten.“
„Schließt du denn aus, dass es … nichtmenschliche Wesen waren?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Aber die wenigsten von denen rauben eine Bank aus. Ist Geld mitgenommen worden?“
„Ja, sogar jede Menge. Etwa eine halbe Million.“
„Das wiederum wirkt menschlich.“ Ich schaue mich erneut um. Etwas gefällt mir nicht. Und das ist nicht nur die Mitteilung an der Wand. „Ich weiß nicht, Ben. Irgendwas passt nicht. Aber ich kann dir nicht sagen, was es ist. Vielleicht hast du recht, und das waren tatsächlich keine Menschen.“
„Vielleicht findet die Spurensicherung Hinweise. Ich halte dich auf dem Laufenden.“
„Ja, das ist auf jeden Fall eine gute Idee. Mann, Mann. So was habe ich noch nie gesehen. Das muss doch aufgefallen sein. Die Schreie. Hat niemand die Polizei gerufen?“
„Doch, wir wurden alarmiert von einem Zeugen. Ein Mann, der von draußen alles beobachtet hat.“
„Und?“
Ben zeigt auf etwas in der Nähe der Tür. Es ist wohl mal ein Mann gewesen. Er wurde mit seinem eigenen Dickdarm erwürgt. „Seine Handynummer stimmt überein.“
„Hm. Ich revidiere meine Ansicht immer mehr. Was hat er denn gesagt?“
„Das war nicht ganz eindeutig. Jedenfalls etwas in der Art, dass sie sie auffressen. Klang wohl ziemlich panisch. Und dann brach plötzlich die Verbindung ab. Die Zentrale hat sofort mehrere Wagen hierhingeschickt, aber als sie eintrafen, fanden sie nur noch das vor.“
Ich habe genug gesehen und gehört. Vorne rausgehen mag ich trotzdem nicht, inzwischen ist auch das Fernsehen da. Schon schlimm genug, dass die Reporter gesehen haben, wie ich mit Ben hier hineingegangen bin. Ich nehme den Hinterausgang und atme tief durch. Bestialisch, der Gestank. Meine Hände zittern, als ich mir eine Zigarette anzünde. Allmählich werde ich ruhiger.
Ben kommt nach draußen und bleibt neben mir stehen, die Hände in den Hosentaschen.
„So möchte ich nicht sterben“, sagt er leise.
Ich werfe ihm einen Seitenblick zu. „Ich bin schon schlimmer gestorben.“
„Schlimmer als das?“
Ich nicke. „Ja.“
Wir schweigen eine Weile vor uns hin, bis meine Zigarette aufgeraucht ist. Ich trete sie aus und wende mich dann Ben zu. „Lass es mich wissen, wenn ihr eine Spur gefunden habt.“
„Du hast keine Idee, wer Schneewittchen sein könnte?“
„Mir ist niemand aus der Szene bekannt, der sich so nennt oder der so ein Massaker anrichten würde. Schon mal gar nicht bei einem Banküberfall.“
Ein tiefer Seufzer entfährt Ben. Dann schlägt er unvermittelt gegen die Tür. Ich betrachte seine Hand.
„Geht schon“, meint er. „Aber das musste raus.“
„Klar.“
„Was ist mit dir? Macht dich das nicht wütend?“
„Doch, sicher. Aber vielleicht stumpfe ich ab.“
„Du? Niemals!“
Jetzt muss ich doch lächeln. „Lieb von dir, Ben. Ich fahre mal nach Hause. Hast du keine Lust, eine Mini-Pressekonferenz zu geben?“
Er braucht nur drei Sekunden, um zu verstehen. Dann nickt er grinsend.
Und ich kann unbemerkt in meinen Wagen einsteigen und wegfahren.

Zu Hause ist niemand. Da der Jaguar schon dasteht, sind die beiden wohl laufen. Ich ziehe mich aus und gehe in die Wanne. Das heiße Wasser entspannt meine verkrampften Muskeln. Mit geschlossenen Augen döse ich weg, bis sie nach Hause kommen.
Als ich die Augen öffne, steht James in der Tür, Danny sitzt neben mir. Beide sehen mich irritiert an.
„Hallo, mein Schatz“, sage ich.
„Was ist los?“ Das liebe ich so an ihm. Immer direkt zur Sache kommen, und du kannst einfach kein Geheimnis vor ihm haben. Nicht nach fast drei Jahren Ehe. Er kennt mich in- und auswendig, fast besser als ich mich selbst.
„Schneewittchen.“
„Hm? War das jetzt eine Anrede?“
„Nein“, erwidere ich kopfschüttelnd. „Sie hatte Hunger. Und hat eine Bank mit einem Schnellimbiss und die Menschen mit Hamburgern verwechselt.“
„Ich verstehe kein Wort.“
Ich schließe wieder die Augen. „Ben rief mich an, ob ich nicht zu ihm kommen wolle. Er möchte mir was zeigen. Eine Bank, sie wurde überfallen. Die Menschen darin … auseinandergerissen, zerfetzt, angefressen. Überall Blut. Und mit Blut an die Wand geschrieben: Snow White was here.“
„Shit.“
„Du sagst es, mein Schatz.“
Er kommt zu mir, hockt sich hin und legt eine Hand ins Wasser. Sie berührt ganz leicht meine Brüste. „Eine Ahnung?“
„Eine ganz düstere.“
„Aber nichts Konkretes?“
„Nichts Konkretes. James, ich bin nicht leicht zu schocken, aber das war hart.“
„Wie haben es die anderen verkraftet?“
„Schlecht.“ Er fragt nicht nach, wie schlecht. Ist ihm sowieso klar. Er kennt mich, und er hat genug Fantasie, sich die Szenerie auszumalen.
„Was für dich?“
„Möglicherweise. Auch gewöhnliche Menschen können so was.“
„In einer Bank? Am helllichten Tag?“
Er stellt immer die unbequemen Fragen, die ich mir stellen müsste. Auch dieses Mal.
„Eher selten.“ Ich sehe ihn an. „Aber warum sollten andere Wesen so was tun? Eine Bank ausrauben, eine halbe Million und ein paar Innereien mitgehen lassen?“
„Sag du es mir!“
„Mir fällt kein Grund ein, der mir gefallen würde.“
„Und ein Grund, der dir nicht gefällt?“
„Dämonen. Aber Dämonen rauben keine Bank aus. Sie brauchen kein Geld.“
„Was ist mit Katharina?“
„Was soll mit ihr sein? Sie hat es nicht nötig, Banken auszurauben!“
„Das stimmt. Sie kauft sie höchstens. Aber sie hat eine Affinität zu Geld. Und ist ein Dämon.“
„Sie frisst keine Menschen.“
„Ich habe ja auch nicht gesagt, dass sie es war. Ich wollte dich lediglich darauf hinweisen, dass es Dämonen gibt, die sich mit Geld abgeben.“
„Ja.“ Ich steige aus der Badewanne.
„Oh je, du hast ja wirklich schlechte Laune.“
Seufzend bleibe ich stehen, dann lasse ich mich von ihm trocken rubbeln. Dass ich dabei an einer Stelle nur noch nasser werde, ist ein eindeutig gewollter Nebeneffekt.

Ich gehe in die Hocke. Hinter dem Gestrüpp bin ich unsichtbar, aber selbst sehe ich alles. Es regnet wie aus einer Gießkanne. Meine Sachen sind völlig durchnässt und kleben unangenehm auf der Haut. Am liebsten würde ich mich nackt ausziehen, aber kalte Windböen halten mich davon ab. Ich drücke den Rücken gegen den Baumstamm hinter mir und lege die Arme um die Beine. Ich zittere, es ist plötzlich kalt. Das Wasser dringt durch die Kleidung, alles an mir ist nass.
Wo bin ich?
Um mich herum Gestrüpp. Ein Baum. Grauer Himmel, aus dem es Bindfäden regnet. Geräusche. Ich wende den Kopf nach rechts und versuche durch die Sträucher hindurch zu erkennen, wo sie herkommen. Da ist ein Weg, schlängelt sich durch den Wald. Eine Prozession kommt, eine Beerdigung. Vorne gehen die Sargträger mit dem Sarg. Dutzende von Schwarzgekleideten.
Etwas ist seltsam. Ich krieche unter dem Gestrüpp auf den Weg zu, um besser sehen zu können. Kinder. Es sind Kinder. Alles nur Kinder, gekleidet wie Erwachsene. Selbst die Sargträger sind Kinder.
Es ist gespenstisch. Bis auf den Regen ist nichts zu hören. Die Gesichter der geschätzt 80 Kinder, die dem Sarg folgen, sind regungslos, wie Masken. Nirgendwo ein Regenschirm, eine Kapuze. Die in Anzüge und Kleider gekleideten Kindern sind genauso nass wie ich.
Ich warte, bis die Prozession vorbeigezogen ist, dann krieche ich auf den Weg. Aufgerichtet folge ich den Kindern. Es fühlt sich an, als würde ich durch einen See waten, so dicht ist inzwischen der Regen. Wenn ich den Mund aufmache, ertrinke ich. Am Wegesrand stehen Laternen, deren Licht sich im Wasser zerstreut.
Die Prozession erreicht ihr Ziel, die Kinder stellen sich um ein ausgehobenes Grab herum auf. Die Sargträger lassen den Sarg hinunter in das Loch, während die anderen Kinder einen seltsamen Singsang anstimmen, wie Kinder im Vorschulalter oft singen. Das Bild ist verrückt: Sie geben sich wie Erwachsene und dann dieser Gesang. Ich erschaudere, während ich die Kinder aus einem Versteck heraus beobachte. Der Regen ist mein Versteck.
Nachdem das Grab zugeschaufelt ist, löst sich die Gruppe auf und die Kinder zerstreuen sich in allen Richtungen. Schließlich bin ich allein. Allein mit den Toten. Ich warte noch ein paar Minuten, bevor ich zum Grab laufe. Für mich wäre es zu klein, aber warum sollten ausgerechnet Tote erwachsen sein in dieser Kinderwelt?
Wer bin ich und was tue ich hier??
Die erste Frage bleibt offen, die zweite beantworte ich mir selbst, indem ich damit beginne, das Grab wieder auszuheben. Mit bloßen Händen ist das eine mühselige und dreckige Arbeit, vor allem, da sich die Erde durch den Regen in einen Sumpf verwandelt. Dennoch habe ich irgendwann endlich den Sarg freigelegt. Ich lege mich auf den Bauch und versuche, den Deckel hochzuziehen. Auf dem nassen Holz rutschen meine Finger immer wieder ab, meine Fingerspitzen bluten schon. Doch schließlich schaffe ich es, den Deckel mit beiden Händen so festzuhalten, dass ich ihn anheben und dann von unten packen kann. Ich ziehe ihn heraus und werfe ihn achtlos zur Seite.
Im Sarg liegt ein Kind, doch es ist zu dunkel, als dass ich viel erkennen könnte. Ich suche meine Taschen ab nach etwas, womit ich Licht machen könnte. Aber selbst wenn ich etwas bei mir gehabt hätte, wäre es inzwischen durch den Regen unbrauchbar geworden. Ich lege mich also erneut in den Schlamm und ziehe stöhnend und ächzend den Sarg aus dem Grab. Jetzt kann ich das Kind besser erkennen.
Ein zehnjähriges Mädchen, die Hände ordentlich auf dem Bauch gefaltet, die Augen verschlossen. Sie sind grau. Das weiß ich sehr genau, denn ich starre entgeistert auf mich selbst.

Graue Augen, die ins Nichts starren. Die Augen einer Toten? Ich trete so weit zurück, dass ich meinen Körper im Spiegel sehen kann. Ist das wirklich eine 26-Jährige?
Bin ich das wirklich?
Mir ist kalt. Als ich die Arme um mich lege, fällt mir auf, dass ich mich umarme. Was ist los mit mir? Wie kann ein Traum mich derart verwirren? Was bedeutet er?
Mir ist klar, dass er eine Botschaft ist. Ich habe als Kriegerin oft genug mit Dingen zu tun, die sich in kein rationales Weltbild pressen lassen, mich eingeschlossen. Aber dieser Traum ist etwas sehr Persönliches. Der Anblick meines Kind-Ichs hat etwas sehr Tiefes berührt, und ich kann nicht einordnen, was das für Gefühle sind, die mich fast in einen Zombie verwandeln. Und das Letzte, was ich jetzt sehen will, ist die Visage des Psychoterroristen. Er weiß eh schon viel zu viel über mich. Ich glaube, er weiß mehr als ich.
Ich lasse die Arme sinken, bis sie einigermaßen locker an den Seiten herunterhängen. Schlanke, sehnige Gestalt, flacher, muskulöser Bauch, kleine, runde Brüste. Kurze Haare. Gefährlich sehe ich wirklich nicht aus. Wer mich nicht kennt, hält mich für ein schüchternes, unsicheres Mädchen. Zumindest wer nicht genau hinschaut, denn ich stehe aufrecht.
Viel wichtiger ist jedoch, dass ich sehr deutlich auch das kleine Mädchen im Spiegel sehe.
Ich trete wieder näher an den Spiegel heran und betrachte mein Gesicht. Die unauffällig vollen Lippen, die fast immer angedeutet diesen zynischen Zug haben. Die gerade, schmale Nase. Und die grauen Augen. Sie sind kalt – ja, fast leblos.
„Wer bist du?“, flüstere ich.
In einem Anfall von Trotz beschließe ich, dass mich der Traum kreuzweise kann und verlasse empört das Badezimmer. James ist gerade fertig mit dem Tischdecken, als ich nackt auftauche. Er mustert mich eindringlich. Ich kenne diesen Blick und mag ihn grad nicht. Er scheint es zu merken, denn die obligatorische Frage kommt nicht. Stattdessen reicht er mir stumm meinen Kaffee.
„Schatz.“ Er mustert mich noch eindringlicher. Wenn ich nackt „Schatz“ sage, scheint das was Bedrohliches zu haben. „Schatz?“
„Ja.“
„Was Ja?“
„Was du auch immer fragst.“
„Wie kommst du darauf, dass ich was fragen will?“
„Weil du ‚Schatz‘ gesagt hast. Mit einem Punkt. Kein Fragezeichen, kein gedehntes ‚Schaaaaatz‘, sondern kurz und knackig ‚Schatz‘. Das bedeutet, du willst mir eine Frage stellen, und von der Antwort hängt mein Leben ab. Also habe ich schon mal vorsorglich Ja gesagt.“
Ich starre ihn mit offenem Mund an.
„Wie lautet denn nun die Frage?“
„Äh … habe ich vergessen.“
„Glück gehabt. Möchtest du frühstücken, mein Schatz?“
Ich nicke stumm und setze mich. Er grinst. „Das kommt nicht oft vor, dass man dich sprachlos kriegt.“
„Das stimmt. – Meinst du, ich sollte zum Psychoterroristen?“
„Was willst du da?“
„Na ja, vielleicht kann er mir den Traum erklären.“
„Wieso sollte dir ein Psychotherapeut den Traum erklären können?“
„Er hat das gelernt.“
James verschüttet vor Lachen seinen eigenen Kaffee. „Scheiße!“ Dann blickt er mich fassungslos an. „Das glaubst du aber nicht ernsthaft, oder?“
„Wieso nicht? Er hat wirklich was drauf.“
„Das glaube ich dir ja. Aber ein Trauma zu behandeln ist was ganz anderes, als einen Traum zu erklären.“
„Freud hat auch …“
„Freud! Lass den mal schön aus dem Spiel. Kannst ja deinen Psychoterroristen fragen, was er von dem hält.“
„Nicht viel. – Und wie finde ich jetzt heraus, was mir der Traum sagen will?“
„Hm. Bist du sicher, dass es ein Traum war?“
„Fast. Also, eigentlich ziemlich sicher. Die Stimmung, das Körpergefühl … sehr untypisch für eine Außerkörperlichkeit. Und die Begegnung mit dem Kind … eigentlich nur in einem Traum möglich.“
Mir fällt ein, dass ich frühstücken könnte und nehme ein Brötchen. Als ich hineinbeißen will, nimmt James es mir aus der Hand, schneidet es auf und schmiert Marmelade auf beide Hälften. Dann bekomme ich es zusammengelegt wieder.
„Danke … was symbolisiert ein Kind, das eigentlich mein junges Ich ist und in einem Sarg liegt? Dass ich bald sterben werde?“
„Na, dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen. Darin hast du nun wirklich viel Übung.“
„Du …!“ Ich atme laut aus. „Ja. Und ich bin erwachsen.“
„Eben. Kannst ja tagsüber darüber nachdenken oder nächste Nacht das Kind fragen. Ich muss jetzt los, habe in einer Viertelstunde eine Besichtigung.“
„Soll ich heute Danny nehmen?“
„Das wäre super.“ Er gießt den Kaffee hinunter und gibt mir einen Kuss. „Bis heute Abend. Und vergiss nicht, dich anzuziehen, bevor du zur Arbeit fährst.“
Manchmal hasse ich ihn. Fast. Wenigstens ein bisschen. Wie kann ein Mensch nur so zynisch sein? Mich ausgenommen!?

Mit 10 war ich ein Einzelkind. Nachdenklich betrachte ich meine Mutter, während ich lustlos im Essen herumstochere. James unterhält sich angeregt mit meinem Vater, aber ich weiß genau, dass er mitkriegt, wie ich drauf bin. Deswegen unterhält er sich so angeregt mit meinem Vater. Aber er schafft es nicht, auch meine Mutter abzulenken. Sie beobachtet mich eine Weile, ehe sie mich anspricht.
„Was ist los, mein Schatz?“
„Nichts.“ Wir alle wissen, dass das gelogen ist.
„Erzählst du mir, welches Nichts dich so beschäftigt?“
„Du bist fast so zynisch wie ich, Mama.“
„Ja, ich habe viel von dir gelernt.“
Ich grinse. „Echt? Die schlimmen Sachen auch?“ Ich atme tief durch. „Ich habe blöd geträumt, das ist alles.“
„Mein Kind, hast du so wenig Vertrauen zu mir?“
Was soll ich dazu sagen? Mütter sind lästig. Meiner Mutter kann ich nichts vormachen, sie kennt mich viel zu gut. Sie spielt oft und erfolgreich die Gattin des reichen Ex-Unternehmers und Entrepreneurs, aber sie kriegt einfach alles mit. Fast alles.
Ich stehe auf und gehe nach draußen. Es regnet leicht, daher bleibe ich unter dem Terrassendach stehen und zünde mir eine Zigarette an. Meine Mutter legt von hinten ihre Arme um mich.
„In letzter Zeit wirkst du oft traurig“, sagt sie plötzlich.
„Traurig?“
„Ja. Nicht immer. Aber ab und zu.“
„Oft oder ab und zu?“
„Mir kommt es oft vor, aber wahrscheinlich ist es gar nicht so oft, wie ich mir einbilde. – Gibt es Probleme mit James?“
„Mit James?“ Ich schüttle den Kopf. Nein, mit James habe ich keine Probleme. Ich liebe ihn. Mein Problem heißt Katharina. Aber das weiß niemand außer ihr. Ich lehne den Kopf zurück, bis unsere Wangen sich berühren. „Mama, ich weiß es nicht. Ich meine, was mich so traurig macht. Mit James ist alles in Ordnung. Ich liebe ihn.“
„Wann werde ich Großmutter?“
„Was?!“ Ich richte mich auf und starre sie entgeistert an.
„Warum erschreckt dich dieser Gedanke so? Du bist eine junge Frau, und du wärst eine wunderbare Mutter.“
„Ich?“ Als Mutter kann ich mich nun wirklich nicht vorstellen. Kind stillen, wickeln, baden … ich??? „Mama, ich glaube nicht, dass ich eine gute Mutter wäre.“
„Doch, das wärst du. Ich habe gesehen, wie du mit Kindern umgehst. Kinder lieben dich.“
„Weil ich auch ein Kind bin!“
„Du bist doch kein Kind mehr!“
Ich ziehe an meiner Zigarette. „In meinem Traum schon. Ich fand mich als Zehnjährige in einem Sarg liegend.“
„Oh. – Jetzt verstehe ich. Aber es war nur ein Traum. Ein böser Traum.“
„Ja, ein böser Traum … wie auch immer. Ich sollte vielleicht erst einmal erwachsen werden, bevor ich ein Kind bekomme.“
„Dann würde die Menschheit aussterben, wenn das Bedingung wäre.“ Meine Mutter kichert. „Es ist gar nicht so gut, ganz erwachsen zu werden.“
„Du überrascht mich, Mama.“
„Wirklich?“
„Nein.“
„Ich habe mich schon fragen wollen, ob du mich wirklich so schlecht kennst.“
Ich zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht. „Mama, im Moment kenne ich nicht einmal mich selbst.“ Seufzend nehme ich einen letzten Zug von der Zigarette, bevor ich sie ausdrücke. „Vor allem verstehe ich nicht, dass ein Traum mich so … depressiv macht.“
„Gegen Depressionen gibt es gute Mittel.“
„Wie den Psychoterroristen?“
„Wieso nennst du ihn eigentlich immer so? Das ist abwertend, und das hat er nicht verdient.“
„Weil er wie ein Terrorist in mein Innerstes eingedrungen ist und dort alles durcheinandergebracht hat.“
„Vielleicht hat er auch nur aufgeräumt.“
„Ja, natürlich. – Nein, Mama, das geht schon. Ich bin bestimmt nicht selbstmordgefährdet. Wüsste sowieso nicht, wie ich das anstellen sollte.“
„Zum Glück …“ Sie schweigt erschrocken. „Tut mir leid, verzeih mir. So war es nicht gemeint.“
Ich nehme sie in die Arme. „Ich weiß, Mama. Ist schon gut. Ist lieb gemeint, dass du versuchst, mir zu helfen, aber ich muss mit diesem Ding, das sich mein Leben nennt, selbst fertig werden. Irgendwie. Und ich schaffe das schon. Trotzdem, danke.“
Sie streichelt mir mein Gesicht, dann gehen wir wieder hinein. Die Männer sehen uns erwartungsvoll an, aber sie werden enttäuscht. Von uns erfahren sie nichts. Außerdem hätten wir sowieso keine Gelegenheit etwas zu erzählen, denn mein Handy meldet sich lautstark. Auf dem Display steht der Name von Jack. Mein Herz verkrampft sich.
„Hallo Jack.“
„Fiona … tut mir leid, dich zu stören.“
„Hat Schneewittchen wieder zugeschlagen?“
„Ja, wahrscheinlich.“
„Scheiße. Hast du Ben schon Bescheid gesagt?“
Er zögert. „Das geht nicht“, sagt er schließlich. Dann räuspert er sich. „Sie haben ihn entführt.“
„Wen?“ Ich kapiere mal wieder nichts. „Wer hat wen entführt?“
„So wie es aussieht, hat Schneewittchen Ben entführt.“
„Was!? Jack, wo bist du?“
„In Bens Wohnung. Kannst du herkommen?“
„Ja, natürlich. Bin gleich da.“ Ich lege auf und starre James an.
„Habe ich das richtig verstanden, dass Ben entführt wurde?“, fragt er. Ich nicke. „Verdammt. Heftig. Wesen, die Polizisten persönlich angreifen, sind entweder sehr dumm oder sehr gefährlich.“
„Oder beides. Schatz, ich muss hin.“
„Ich weiß.“
Ich gebe ihm einen Kuss, verabschiede mich von meinen Eltern und laufe rüber zu unserem Haus. Kurzerhand nehme ich den Jaguar, weil ich ihn sowieso wegsetzen müsste. Vor dem Haus, in dem Ben wohnt, sehe ich schon von Weitem den üblichen Auflauf. Allerdings ist die Presse noch nicht da, also hat mich Jack ziemlich schnell, nachdem die Entführung Bens entdeckt wurde, angerufen. Ich parke neben einem Krankenwagen, und als ich aussteige, nimmt mich ein junger Polizist in Empfang.
„Der Chief möchte, dass ich Sie zu ihm bringe“, sagt er ohne jede Begrüßung. „Ich finde das unverantwortlich.“
„Wieso?“, frage ich, unwillkürlich schmunzelnd.
„Es sieht nicht schön aus in der Wohnung des Lieutenants.“
„Wieso?“ Mein Herz verkrampft sich. „Ich denke, er wurde entführt?“
„Er schon. Sein … Freund nicht.“ Mehr scheint der Polizist nicht sagen zu wollen. In der Zwischenzeit haben wir das Haus betreten und gehen zu Fuß in die zweite Etage. Ich habe dabei mehrere Déjà-vus. Bleiche Polizisten, die aussehen, als würden sie gleich kotzen. Dank der Andeutungen des jungen Polizisten ahne ich allerdings, was der Auslöser für die allgemeinen Übelkeitsanfälle sein könnte.
Jack erwartet mich vor der Wohnung. Es ist eine dieser Luxuswohnungen in einem Luxusgebäude in einer Luxusgegend. Wo waren die Luxuswachleute des privaten Schutzdienstes? Und wieso kann sich Ben das eigentlich leisten? Zumindest die letztere Frage kann ich mir selbst beantworten: Weil er zurückgezogen lebt und kaum Geld für irgendwas ausgibt, was nicht unbedingt nötig ist.
Ich nehme Jack kurz in die Arme. Dann deute ich auf die Wohnungstür. „Da drinnen muss es ja schlimm aussehen.“
„Ja. Du warst in der Bank?“
Ich nicke.
„Dann wird es für dich nichts Überraschendes in der Wohnung geben. Wusstest du, dass Ben mit einem Mann zusammengelebt hat?“
„Du?“
„Ja. Aber er machte es nie öffentlich.“
„Nun, ich habe es geahnt. Aber wir haben nie über sein Privatleben gesprochen.“
Jack mustert mich mit einem undefinierbaren Ausdruck. Schließlich öffnet er die Tür und geht vor. Bestialischer Gestank schlägt mir entgegen. Die Quelle liegt auf dem Boden zwischen Badezimmer und Küche. Es war mal ein Mann, das kann ich erkennen.
Ich schlucke. „Komisch, dass Menschen kein Problem haben, ein Huhn aus dem Supermarkt anzupacken, aber bei diesem Anblick loskotzen.“
„Du findest das komisch?“
„Nicht wirklich.“ Während ich an den Resten des Mannes, und es sind wirklich nur Reste, vorbeigehe, denke ich daran, dass es eben einen Unterschied macht, ob man ein Huhn als Huhn erkennen kann oder nicht. Nicht ohne Grund werden die Hühner meistens in Einzelteilen und mariniert oder paniert angeboten, um bloß keine Assoziationen zu wecken. Niemand wäre von einem Menschenschnitzel schockiert, wenn er den ursprünglichen Menschen nicht mehr erkennen könnte und auch nicht wüsste, dass es Menschenfleisch ist, was da grad in der Pfanne bruzzelt.
Der Freund von Ben ist als Mensch erkennbar, auch wenn sein Kopf entkernt wurde.
„Was ist passiert?“, erkundige ich mich. Ich stehe nun mit Jack im Wohnzimmer. Es sieht wild aus. Und als ich erkenne, dass eins der Beweisstücke, das neben dem Sessel liegt, ein Teil von einem Fuß ist, halte ich kurz den Atem an, sonst würde selbst mir schlecht werden.
„Soweit wir rausgefunden haben, sind sie durch das Fenster gekommen. Es gab wohl einen kurzen Kampf. Dann haben sie den Freund – er hieß George Wilson – ausgeweidet, vermutlich, als er noch lebte. Und sind wieder durch das Fenster gegangen.“
„Durch das Fenster? Wir sind im zweiten Stock.“
„Das scheint sie nicht gestört zu haben“, erwidert Jack trocken.
Ich trete zum Fenster, bleibe aber in einiger Entfernung stehen, um die Spurensicherung nicht zu stören. Die Scheiben liegen vor dem Fenster, in Tausenden von Scherben. Sie sind nicht durch das Fenster gekommen, sie sind durch das Fenster gesprungen. Bloß wer?
„Gibt es Zeugen? Irgendwelche Hinweise, mit wem oder was wir es zu tun haben?“
Jack schüttelt den Kopf. „Das Ganze hat vielleicht zehn Minuten gedauert, wenn überhaupt. Mehrere Bewohner haben was gehört, es hat ja auch ordentlich gerumst. Bei uns gingen zwei Notrufe ein. Als wir eintrafen, war es schon vorbei. Als unsere Leute die Tür aufbrachen, hat George noch gezuckt.“
„Wie bitte? Er hat doch kein Gehirn mehr!“
Jack zuckt die Achseln. „Anscheinend hatten sie es ihm erst kurz zuvor entfernt. Sein Körper bewegte sich jedenfalls noch.“
Ich erschaudere. Erinnerungen kommen plötzlich hoch. Erinnerungen, die ich gut verschlossen wähnte. Dann merke ich nur noch, dass Jack mich auffängt.
„Fiona? Fiona, was ist los?“
Ich klammere mich an Jack fest und warte darauf, dass die Welt um mich herum sich beruhigt. Das Ganze dauert sicher nicht länger als ein paar Sekunden, aber das reicht, um Jack einen panischen Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern.
„Fiona??“
Ich atme ein paarmal tief durch und richte mich langsam auf. „Sorry … ich … ich habe mich an etwas Unangenehmes erinnert.“
Jack mustert mich, dann nimmt er meinen Arm und zieht mich fort, fort von den neugierigen Blicken seiner Leute, in das Bad, und er schließt die Tür.
„Fiona, das ist das erste Mal, dass ich eine solche Reaktion bei dir erlebe“, sagt er dann langsam.
„Puuh …“ Ich setze mich auf den Wannenrand und fische meine Zigaretten hervor. „Du auch?“ Und als er den Kopf schüttelt, zünde ich mir eine an. „Das Bild vom zuckenden Kerl … ließ die Frage in mir hochkommen, ob und wie er sich dabei fühlte … und das wiederum in mir mit Urgewalt die Erinnerung daran erwachen, wie sich so was anfühlt.“
„Was anfühlt?“
„Seinen Körper in Stücken zu verlieren.“ Ich ziehe an der Zigarette und bin wieder halbwegs bei mir. „Du weißt doch, wer ich bin.“
„Ja. Aber wir haben uns noch nie über Details unterhalten. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass du auch schon …“
„Ausgeweidet wurde? Nun, es lief etwas anders. Aber am Ende konnte ich die einzelnen Teile meines Körpers auf dem Boden zerstreut rumliegen sehen, bevor ich endlich das Bewusstsein verlor. – Wie auch immer. Ich habe nicht mit diesem Flashback gerechnet.“
„Vielleicht sollte jemand anderes den Fall übernehmen? Schon allein, weil du persönlich befangen bist.“
„Willst du bei Gott anrufen? – Nein, so läuft das nicht, Jack. Du wirst mit mir vorliebnehmen müssen. Wir sind keine Behörde, bei uns gibt es keinen Notruf, keinen Dienstplan, keine Zuständigkeiten. Ich bin Fiona und zufällig in dieser Wohnung, zufällig in diesem Bad und sitze nur zufällig auf dieser Wanne und rauche zufällig diese scheißverdammte Zigarette!“
„Schon gut, ich habe verstanden.“
„Tut mir leid.“ Ich drücke die Zigarette aus und erhebe mich. „Ich will mir die Spuren draußen ansehen.“
Allerdings nicht die in der Wohnung. Um die kümmern sich schon die Fachleute, die das besser können als ich. Ich gehe vorsichtig nahe an das Fenster heran, während unter meinen Sohlen Glas knirscht. Unter dem Fenster ein größerer Gemüsegarten. Pech für die Hobbygärtner, aber gut für mich, denn zwischen den Tomaten und der Paprika ist sehr gut zu erkennen, wo die Angreifer herkamen.
„Sie scheinen von da unten hier hochgesprungen zu sein“, bemerke ich. „Hm.“
„Hochklettern kommt nicht infrage?“
„Dann hätten sie die Scheibe eingeschlagen, und dann lägen die Scherben ganz anders.“
„Das stimmt“, gibt Jack zu. „Aber wer springt mal eben in ein Wohnung im zweiten Stock durch ein geschlossenes Fenster?“
„Sehr gute Frage.“ Ich schaue mich draußen um. Niemand zu sehen. Bevor Jack reagieren kann, springe ich durch das Fenster und lande im Gemüsebeet. Da ich mich dabei darum bemühe, nicht die Spuren der Entführer zu zerstören, müssen weitere Tomaten dran glauben. Das ist blöd, denn der sich verteilende Saft erschwert etwas die Spurenlese. Während ich mich über die Spuren der Entführer beuge, denke ich flüchtig darüber nach, ob Tomatensaft gut aus Baumwolle rausgeht. Wir werden sehen.
Ich konzentriere mich auf das Riechen. Meinem Anderssein verdanke ich unter anderem wesentlich höher auflösende Sinneswahrnehmungen als normale Menschen. Was normal auch immer sein mag. Neben dem brutal intensiven Geruch der zerstörten Tomaten rieche ich als erstes Angst. Todesangst. Ich rieche Bens Angst.
Und dann ist da ein vertrauter Geruch, nur viel, viel intensiver. Der Geruch von Dämonen. Er ist sehr spezifisch, für geübte Nasen wie meine gut erkennbar. Auch Katharina hat diesen Geruch, allerdings nur dezent. Hier jedoch, in diesem Gemüsegarten, waren Vollblutdämonen unterwegs. Damit ist jeder Zweifel ausgeräumt – es waren keine Menschen. Wie konnte ich das auch nur annehmen? Dieser Geruch hätte mir auffallen müssen in der Bank, wäre er auch ohne den allgegenwärtigen Gestank toter Seelen. Fiona! Ich korrigiere, nicht die Seelen stanken, sondern ihr brutaler Tod.
In der Zwischenzeit sind Jack und zwei Polizisten auch da. Jack sieht mich vorwurfsvoll an, spart sich aber jede Bemerkung bezüglich meiner Stunteinlage.
„Hast du was rausgefunden?“
Ich mustere kurz die beiden Polizisten und deren mitleidigen Gesichtsausdruck, dann wende ich mich Jack zu. „Ja.“ Statt einer weiteren Erklärung folge ich der gut sichtbaren und noch besser riechbaren Spur. Ziemlich eindeutig verließen die Entführer das Grundstück auf demselben Wege, auf dem sie gekommen waren. Der riesengroße Gemeinschaftsgarten des Mietshauses grenzt an einen öffentlichen Erholungspark, durch einen mindestens zwei Meter hohen Maschendrahtzahn davon abgetrennt.
„Auf der anderen Seite geht es weiter“, stellt Jack lakonisch fest.
Ich betrachte den Park. Etwas weiter südlich fließt die Labe, spätestens darin würde ich die Spur verlieren. Außerdem sind in dem Park zu viele Leute unterwegs.
„Manchmal liebe ich deinen Humor, Jack. Hast du hier noch was zu tun?“
„Alle wären froh, wenn ich sie hier nicht bei der Arbeit stören würde. Kann ich dir von unserem hervorragenden Kaffee in der Zentrale anbieten?“
„Sandras Kaffee? Jederzeit.“
Wir fahren in die Polizeizentrale, getrennt. Im Vorzimmer des Polizeichefs werde ich überschwänglich von Sandra begrüßt. Erstaunt stelle ich fest, dass ich Jack überholt habe. Ich lümmle mich in den Chefsessel und lege die Beine auf die Lehne. Dabei fallen mir die roten Tomatensaftflecken auf. Sie sehen wie Blutflecken aus.
Jack und Sandra kommen gleichzeitig, sie mit dem Kaffee. Nachdem sie wieder draußen ist, halte ich fragend meine Zigarettenschachtel hoch. Jack nickt. Ich zünde mir eine Zigarette an und betrachte ihn neugierig.
„Ich habe ein paar Leute angesetzt, Bens letzte Fälle anzuschauen. Oder findest du es nicht seltsam, dass er entführt wurde?“
„Ich finde im Moment alles seltsam“, erwidere ich melancholisch.
„Fiona? Alles in Ordnung?“
„Bestimmt“, versichere ich und nehme einen tiefen Zug. „Jack, ich habe noch nie davon gehört, dass Vollblutdämonen sich mitten am Tag einen Menschen holen. Auf diese Weise nicht einmal nachts. Und noch ungewöhnlicher ist dieser Banküberfall.“
„Er ist jedenfalls Thema Nummer eins in den Medien. Aber nicht mehr lange. Schwuler Polizist wird entführt, sein Freund ausgeweidet, und das mitten am helllichten Tag in einer bewachten Luxuswohnanlage.“
„Klingt nach einem Schundroman.“
„Leider.“
Ich grinse leicht. „Es müssten vier oder fünf Dämonen sein, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie völlig unbemerkt durch die Gegend laufen.“
„Ich auch nicht, deswegen lasse ich jeden Polizisten der Stadt alles auseinandernehmen, was irgendwie auffällig ist.“
„Du warst ja richtig fleißig.“
Jack seufzt, dann setzt er sich an seinen Schreibtisch. Nachdenklich mustert er mich. „Du hast dich verändert.“
„Ich esse keine Menschen.“
Er lacht. „Das wollte ich damit auch nicht behaupten. Ich schätze, du wirst mir den Grund nicht erzählen.“
„Warum ich keine Menschen esse? Oh, das ist einfach. Sie schmecken mir nicht.“
„Ich sollte dir die Zigaretten wegnehmen, sie tun dir offensichtlich nicht gut.“
„Versuchs doch!“ Ich grinse. „Du und James, ihr seid euch sehr ähnlich.“
„Und das heißt konkret?“
„Ihr bringt mich beide gezielt zum Lachen, wenn ich scheiße drauf bin.“
„Ach, das meinst du.“
„Und ihr werdet alt.“ Zack. Das konnte ich mir nicht verkneifen. Für einen Moment bin ich unsicher, ob ich nicht zu weit gegangen bin. Mit James kann ich das machen, das weiß ich. Aber Jack kenne ich nicht so gut. Doch dann entspannen sich seine Gesichtszüge und er stellt fest: „Du bist respektlos. Aber auf eine charmante Weise.“
„Autsch.“
„Ich wünschte, ich hätte eine Tochter wie dich.“ Und zack. Er ist ein guter Sparringspartner.
„Jetzt sind wir wohl quitt und können ernsthaft arbeiten“, erwidere ich. Er grinst.
Mein Handy macht Höllenkrach. Wer zum Teufel hat „Race with the Devil“ als Klingelton eingestellt?
„Was ist das?“, fragt Jack entgeistert.
„Mein Motto: Race with the Devil.“ Ich muss grinsen, während ich den Anruf annehme. „Hallo, mein Schatz.“
„Hi. Störe ich?“
„Du? Niemals!“
„Ich werde dich gegebenenfalls daran erinnern. Wo bist du?“
„Bei Jack im Büro.“
„Grüß ihn von mir. Gehe ich recht in der Annahme, dass du nicht in der nächsten halben Stunde nach Hause kommst?“
„Ich könnte auf die Idee kommen, Einsteins Relativitätstheorie zu widerlegen, dann doch.“
„Schatz, hübsche Blondinen haben keine Ahnung von Physik, also zerstöre bitte nicht mein Weltbild.“
„Du bist ansatzweise zynisch.“
„Zum Glück nur ansatzweise. – Und, wie sieht es aus?“
„Beschissen. Sie sprangen mal eben im zweiten Stock durch das Fenster, fraßen Bens Spielkameraden halb auf und sprangen wieder aus dem Fenster. Dabei nahmen sie Ben mit. Ob als Proviant oder aus weniger niederen Gründen, lässt sich derzeit nicht sagen.“
„Nenn du mich noch einmal zynisch.“
„Wusstest du eigentlich, dass er schwul ist?“
„Gewusst nicht, aber ich hatte so eine Vermutung. Nur ist das nichts, was man einfach mal so fragt.“
„Ja, das ist wahr. Manchmal erschreckt mich meine eigene Naivität. – Bist du eigentlich noch bei meinen Eltern?“
„Wir sind.“
„Klasse. Frag bitte meine Mutter, wie man Tomatensaftflecken aus Jeans entfernt.“
„Wie bitte?“
„Tomatensaftflecken. Jeans. Entfernen.“ Ich sehe Jack strafend an, der sich vor Lachen verschluckt.
„Warum fragst du sie nicht selbst?“, fragt James säuerlich und reicht mich weiter.
„Mama?“
„Mein Kind, James hat erzählt, was passiert ist. Ich habe davon ja auch im Fernsehen was gesehen, das ist ja schrecklich.“
„Im Fernsehen wurde berichtet, dass ich Tomatensaftflecken auf der Hose habe?“
„Was?“
Ich zünde mir mit einer Hand eine neue Zigarette an, und Jack sieht sich ungerührt an, wie ich mich abmühe. „Wie kriege ich Tomatensaftflecken aus Jeans?“
„Ich verstehe nicht …“
Ich schließe die Augen und zähle langsam rückwärts. „Was ist mit euch los? Ich will einfach nur wissen, wie ich Tomatensaftflecken aus Jeans rauskriege. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein.“
Jack liegt halb auf dem Boden.
„Mit Kernseife. Einweichen, dann normal waschen.“
„Na, endlich eine vernünftige Antwort.“
„Aber … ich dachte, du bist bei der Polizei wegen … wegen dieser schrecklichen Sache.“ Arme Mama.
„Bin ich auch. Ich habe ein Tomatenbeet gekillt, und die Tomaten haben sich fieserweise an meiner Hose gerächt.“
„Tut mir leid, mein Kind, du hast grad eine Laune, die kann ich einfach nicht ertragen. Ciao.“ Und schon habe ich wieder James dran. Ich kann hören, dass er das Lachen nur mit Mühe unterdrückt. „Du machst deine Mutter unglücklich.“
„Tut mir leid.“ Glatt gelogen, und alle, die mich kennen, wissen das auch. „Also, wenn du nachher nach Hause gehst, schau bitte nach, ob wir Kernseife haben, sonst bringe ich welche mit.“
„Ja, Chefin.“
„Arschloch.“ Ich lege wütend auf. Und rufe ihn wieder an. „Tut mir leid. Diesmal wirklich.“
Jetzt zählt er rückwärts. Dann fragt er ruhig: „Was ist passiert?“
„Ich habe Tomaten gekillt. – Ich … ich hatte einen Blackout in der Wohnung von Ben. Scheiße … davon war keine Rede, dass mein Körper zwar heilt, aber meine Seele nicht.“
„Vielleicht ist das die Aufgabe. Zu wachsen.“
„Was?“
„Ist das nicht so? Ist das nicht etwas, woran deine Seele wachsen kann?“
„Hm.“ Ich betrachte Jack, der jetzt sehr ernst an seinem Schreibtisch sitzt. „Ja, vielleicht. Jedenfalls wurde dadurch meine vorher schon nicht rosige Laune nicht besser.“
„Verständlich. Und was habt ihr jetzt vor?“
„Wir versuchen, in Bens Fällen einen Hinweis zu finden, wieso ausgerechnet er entführt wurde. Und wieso er überhaupt entführt wurde.“
„Viel Erfolg. Ich glaube nicht, dass ihr da was finden werdet.“
„Ich auch nicht“, erwidere ich müde. „Aber ich habe im Moment keine bessere Idee.“
„Hast du Katharina schon gefragt?“
Ich erstarre für den Bruchteil eines Moments. So kurz nur, dass es nicht einmal für eine Teilchenkollision reichen würde. Danach höre ich mich antworten: „Nein. Ich glaube nicht, dass sie da helfen kann.“
„O. K. Wahrscheinlich hast du recht damit. – Na gut, ich halte euch nicht länger auf. Schatz …“
„Ja?“
„Versprich mir, dass du dich meldest, wenn es dir wieder so dreckig geht. Ich spüre deinen Schmerz.“
Oh Mist. Ich schließe die Augen und halte den Atem an. Dann nicke ich. Doofkopf, er kann dich doch nicht sehen. „Ja, das werde ich. Ich liebe dich.“ Und lege schnell auf. Oh Mann, was für ein Tag.
Jack mustert mich, ich mustere ihn. Dann zünde ich meine nächste Zigarette an. Heute werde ich bestimmt meinen eigenen Rekord brechen. Vielleicht sollte ich mit dem Rauchen aufhören. Andererseits – es entspannt, und ich werde ganz sicher nicht an den Folgen sterben. Zumindest nicht auf Dauer.
„Fiona … ich habe ein Problem mit der Vorstellung, dass sich Dämonen einfach so in dieser Stadt verstecken können. Sie müssen doch auffallen.“
Wenn er wüsste. „Jack, hast du eine Ahnung, wie viele Dämonen oder ähnliche nicht ganz menschliche Wesen in Skyline leben?“
„Nein. Bislang ist mir keine Statistik dazu untergekommen. Wie viele sind es denn?“
„Was schätzt du?“
„Ich wollte nicht schätzen, aber wenn du schon so fragst, sind es vermutlich mehr, als ich zuerst geschätzt hätte. 1000?“
„Ich rede von Skyline, nicht von einem kleinen Dorf. Genaue Zahlen habe ich natürlich auch nicht, aber etwa eine halbe Million dürfte realistisch sein.“
Die Zahl lässt seine Gesichtszüge entgleisen. „Eine. Halbe. Million?“
„Plusminus, ja. Viele von denen leben in den Katakomben, die ja größer sind als die Stadt. Aber selbst überirdisch dürften es an die 200.000 sein. Die Wenigsten von ihnen fallen auf, viele sind Mischlinge, entstanden aus Affären oder längeren Beziehungen zwischen Menschen und … äh … eben Nichtmenschen.“
„Kennst du … Nichtmenschen?“
Ich nicke.
„Und das meinst du ernst, dass sich Menschen mit Nichtmenschen paaren?“
„Das kommt durchaus oft vor. Jack, vergiss alles, was du aus blöden Filmen über Dämonen, Vampire und sonstige Gruselgestalten weißt. Manche, wie wir ja auch heute wieder gesehen haben, können sehr unangenehm werden, aber das ist keine typisch nichtmenschliche Eigenschaft.“
„Eher im Gegenteil.“
„Du sagst es. – Verdammt, wer raucht immer meine Zigaretten auf?“ Ich werde es nie erfahren, denn Sandra steckt ihren Kopf durch die Tür. „Chef, da ist eine Polizistin, sie meint, sie hat vielleicht eine wichtige Information zu Ben.“
„Dann soll sie reinkommen.“
Sie ist noch jung, etwa in meinem Alter, und sehr unsicher. Sie tritt von einem Bein auf das andere, während ich sie mustere. Jack bietet ihr einen Stuhl an. Sie setzt sich vorsichtig.
„Wie ist Ihr Name?“, erkundigt sich Jack.
„Marlen.“
„O. K., Marlen. Sie wissen etwas, was Ben helfen könnte?“
„Nun … ich bin mir nicht ganz sicher … aber ich dachte, falls es doch wichtig ist und ich erzähle es nicht …“
„Das ist ein guter Gedanke. Erzählen Sie es uns?“
Marlen wirft mir einen scheuen Blick zu, als ich mir die nächste Zigarette anzünde. Mir ist bewusst, dass über mich wahre Legenden erzählt werden, und auch wenn ich kein Unschuldslamm bin, ist das Meiste wahrscheinlich maßlos übertrieben. Und nun sitzt diese Legende beim Chief, raucht in aller Seelenruhe eine Zigarette und sieht auch noch völlig harmlos aus. Mit Tomatensaftflecken auf den Jeans.
„Also, das war so … heute Morgen kam jemand. Eine Frau, in Begleitung eines Mannes. Dieser Mann, er fiel mir auf, weil er so unsicher ging. Nicht wie ein Betrunkener oder so, eher wie ein kleines Kind, das noch nicht gelernt hat, sicher zu gehen. Und er trug einen langen Mantel.“
„Bei dem Wetter?“, frage ich.
„Ja, das fand ich auch seltsam. Die Frau war normal gekleidet. Na ja, vielleicht ein bisschen zu … freizügig. Aus der Nähe konnte ich schon ziemlich tief in ihr Dekolleté schauen. Und sie tat alles dafür, dass ich da hinschaue.“
„War sie lesbisch?“
„Das … das glaube ich nicht. Es wirkte sehr aufgesetzt.“
„O. K. Und was geschah dann?“
„Sie wollte wissen, wo sie einen David findet.“
„David wer?“
„Das hat sie nicht gesagt, Sir. Sie hatte nur den Vornamen und fand es sehr seltsam, dass wir ihr nicht sagen konnten – und auch nicht sagen wollten – wo sie ihn finden könnte.“
„Wirklich seltsam. Aber wieso glauben Sie, dass das was mit der Entführung zu tun hat?“
„Nun, Sir, als sie gemerkt hat, dass sie nichts erreicht, obwohl ihr schon fast eine Brust aus dem Kleid gerutscht ist – und meine Kollegen sich plötzlich ziemlich kindisch benahmen –, da hat sie ihre Taktik geändert und fragte, ob sie jemanden sprechen könnte, der hier was zu sagen hat. Ich wollte ihr grad erklären, dass sie erst einmal mir erzählen müsste, um was es überhaupt geht, da verließ Mr Norris das Haus, um heimzugehen. Sie fragte dann, wer das sei und ging dann. Das war sehr seltsam, wie sie es plötzlich eilig hatte, aber ich konnte ja nicht wissen, was passieren würde.“ Sie bricht in Tränen aus und Jack hat Mühe, sie zu beruhigen. Schließlich reiche ich ihr eine Zigarette und gebe ihr Feuer. Das hilft. Das hilft immer. Sie wischt sich die Tränen ab und schnieft.
Nachdem sie weg ist, sieht Jack mich an. „Schneewittchen“, nicke ich. „Endlich eine Spur. Wir brauchen dringend das Phantombild.“
„Sie lässt es ja jetzt anfertigen. Was hältst du von ihrem Begleiter?“
Ich zucke die Achseln. „Ein Dämon. Spannend finde ich die Frau. Einerseits kannte sie sich mit unseren Gepflogenheiten aus, aber so richtig auch wieder nicht.“
„Das ist wahr. Glaubt, dass wir ihr helfen können und wollen, einen David zu finden. Welchen von den zigtausend?“
„Das bedeutet, sie lebt nicht in der Zivilisation. Damit wird ihre Vorgehensweise zumindest teilweise verständlich. Und es macht sie und ihren Begleiter gefährlich. Genauer gesagt, ihre Begleiter. Im Garten waren definitiv die Spuren von mehr als zwei Dämonen.“
„Wie viele?“
„Vielleicht 4. Oder mehr. Genau konnte ich das nicht erkennen, dazu waren die Spuren zu durcheinander.“
Jack lässt sich seufzend in einem der Sessel nieder. „Jetzt nehme ich auch eine Zigarette.“
Wir sitzen schweigend da und rauchen.

Falls Nasnat vor meiner Ankunft schlechte Laune hatte, wird sie durch meinen Anblick auch nicht besser. Da ich das allerdings schon gewohnt bin, lasse ich mich dadurch nicht verunsichern. Trotzdem wäre es sicherlich interessant zu erleben, wie Nasnat sich verhält, wenn er gute Laune hat. Falls er dazu überhaupt fähig ist. So allmählich habe ich da meine Zweifel.
„Was willst du?“, bellt er, nachdem ich mich an ihm vorbeigedrängelt habe.
„Zu dir.“
„Du bist bei mir. Kannst also wieder gehen.“
„Und mit dir reden!“
„Das kostet aber extra.“
„Das gehörte mal zum Basistarif.“
„Du bist eine harte Verhandlungspartnerin. Na schön. Willst du einen Tee?“
„Klar.“
Wir setzen uns in die Küche. An die unsichtbare Bedienung habe ich mich schnell gewöhnt, jetzt fällt sie gar nicht mehr auf. Ich denke auch daran, mich nicht zu bedanken. Nasnat hatte mir mal erklärt, dass ich genauso gut zu der Wand „Danke“ sagen könnte.
„Fang an zu reden.“
Ich mustere den kleinen Nasnat. Wenigstens sind wir auf Augenhöhe. „Du warst auch schon mal freundlicher. Nicht viel freundlicher, aber so eine kleine Nuance, da bin ich mir ganz sicher.“
„Ich bin kein Psychoonkel.“
„Das ist wohl wahr.“ Zum Glück habe ich nichts im Mund und kann mich auch nicht verschlucken. „O. K., dann komme ich direkt zur Sache.“
„Ich bitte darum.“
„Kennst du Schneewittchen?“
„Natürlich. Ich habe sie immer besucht, wenn die Zwerge in dem Berg waren.“
„Oh. Warum hast du sie denn besucht?“
Nasnat betrachtet mich mitleidig. „Meine Verehrteste, dein Mann tut mir leid. Läuft er schon über?“
Ich schlage mir auf die Stirn. „Jetzt verstehe ich! Du hast einen Witz gemacht! – Entschuldige, es ist mir völlig entgangen.“
„Wie gesagt, dein Mann tut mir leid. Was ist mit Schneewittchen? Schon wieder schwanger?“
Ich umfasse die Teetasse mit beiden Händen, beuge mich über den Tisch und starre Nasnat in die Augen. „Sie und ihre Zwerge haben erst eine Bank überfallen, alle Menschen dort zerfetzt und teilweise aufgefressen. Dann haben sie heute meinen Freund Lieutenant Ben Norris zu Hause überfallen, entführt und vorher seinen Freund ausgeweidet und teilweise aufgegessen.“
„Hm. So psychopathisch habe ich sie nie erlebt, da kann ich jetzt nichts dazu sagen. – Von der Bank habe ich gehört, das mit dem Polizisten ist neu für mich. Bist du sicher, dass es nicht bloß besonders durchgeknallte, menschliche Idioten sind?“
„Bin ich. Ich konnte sie riechen.“
Nasnat nickt langsam. „Das ist schade. Durchgeknallte menschliche Idioten, die so was machen, sind mir deutlich lieber als durchgeknallte Dämonen.“
„Mir auch, Nasnat. Ich habe gehofft, du kannst mir helfen.“
„Das würde ich gerne. Ich fürchte nur, dass ich in diesem Fall weniger weiß als du.“
„Das geht gar nicht.“
„Dann wissen wir beide nichts.“
„Schade.“
Nasnat nippt an seinem Tee und beobachtet mich aus den Augenwinkeln. „Er ist ein guter Freund?“
„Ja. Er war dabei, als das mit … mit meinem Onkel geschah. Gefühlt der einzige Polizist, der auf meiner Seite stand.“
„Ich verstehe. Es tut mir leid. Vielleicht bringt es was, intensiv darüber nachzudenken, wo sich solche Dämonen verstecken könnten. Denn eins ist offensichtlich: Sie halten sich noch nicht lange in der Zivilisation auf.“
„Den Verdacht habe ich auch. Aber kannst du das ein wenig konkretisieren?“
Er zuckt die Achseln. „Sie werden sich ja wohl kaum ein Appartement gemietet haben.“
„Bleiben bloß eine Million Möglichkeiten“, erwidere ich. „Aber du hast recht, mit ihren Essgewohnheiten würden sie auffallen. Und wahrscheinlich auch mit ihren sonstigen Gewohnheiten. Jedenfalls, der Tee war mal wieder sehr gut.“
„Daran wird sich auch niemals etwas ändern. Eher geht die Welt unter.“
Er begleitet mich zur Tür hinaus. Wir verabschieden uns nicht, das tun wir nie. Denn dann müsste er ja zugeben, dass er sich über den Besuch gefreut hat.
Draußen stelle ich erstaunt fest, dass es schon dunkel geworden ist. Mein Wagen, vielmehr der von James, steht unversehrt dort, wo ich ihn abgestellt habe. In dieser Gegend eigentlich gar nicht so selbstverständlich, allerdings scheint es, als würden das Haus und die nähere Umgebung von Leuten, die der Idee des Eigentums ablehnend gegenüberstehen, gemieden. Für den Rest der Gegend gilt das vermutlich eher nicht.
Nach einem Blick auf die Tür zum geheimnisvollen Haus von Nasnat drehe ich mich um und will zu meinem Auto gehen. In der Drehbewegung nehme ich etwas wahr, was den inneren Roten Alarm auslöst, bevor ich bewusst wahrgenommen habe, dass etwas Großes und Dunkles auf mich zukommt. Zukommt? Zurast! Und zwar so schnell, dass ich trotz meiner übermenschlichen Reflexe keine Chance habe, den Angriff abzuwehren. Etwas Handartiges umschließt meinen Hals, eine andere Hand packt meine kurzen Haare, zusammen heben sie mich hoch und drücken mich gegen die Hauswand. In meinem Blickfeld erscheint das Gesicht meiner Albträume.
Leuchtend blaue Augen mustern mich neugierig, Zähne, die selbst einem weißen Hai zur Ehre gereichen würden, blitzen hinter den sich öffnenden Lippen auf, als das Etwas zu mir spricht: „Du wirst Nasnat rausrufen.“
„Warum klopfst du nicht bei ihm an, wie es sich gehört?“, erkundige ich mich.
Er schlägt meinen Kopf mit einer lässigen Bewegung gegen die äußerst harte Hauswand. „Dein Humor ist berüchtigt. Man sagt, dass man dir die Augen rausreißen kann und du machst noch Witze über innere Welten.“
„Anscheinend habe ich mir einen guten Ruf erarbeitet …“ Das zweite Mal, als mein Kopf gegen die Hauswand klopft, tut es schon richtig weh. Wahrscheinlich habe ich eine Platzwunde. Die Situation wird ungemütlich.
„Was hältst du davon, wenn du mich loslässt, bevor wir uns weiter unterhalten?“
„Nichts. Du bist eine Kriegerin. Mit Kriegern mache ich für gewöhnlich kurzen Prozess. Dass du noch am Leben bist, hat einzig damit zu tun, dass ich dich brauche.“
„Um bei Nasnat reinzukommen, ja, das habe ich verstanden.“
„Du bist ja intelligent“, grinst das dunkle Wesen. Dunkel, weil es vollständig in Schwarz gekleidet ist wie ein Nachtmahr. „Du hast also die Wahl …“
Mir gefällt diese Fortsetzung nicht. Ich packe seine Pranken, um mir mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Er merkt, dass wir kräftemäßig ausgeglichen sind, denn plötzlich schleudert er mich herum und lässt mich los, sodass ich gegen ein Auto fliege und dessen Dach halb eindrücke, bevor ich ziemlich unsanft auf der Straße lande. Die Begegnung mit der Dachkante, die meinen Unterleib etwas in Mitleidenschaft zieht, raubt mir vorübergehend den Atem, sodass ich noch auf der Straße liege, als mein neuer Feind in meinem Blickfeld auftaucht.
„Wie stehst du jetzt zu meinem Vorschlag?“, erkundigt er sich.
Statt einer Antwort rolle ich mich von ihm weg, in der Hoffnung, schnell genug aufstehen zu können, aber das ist in meinem Zustand illusorisch. Die Pranken haben mich wieder, heben mich hoch und ich trete meinen nächsten Flug an. Er endet in Glasscherben, und ich finde mich zwischen Büchern wieder. Mir fehlt allerdings die Zeit herauszufinden, in welchem Genre ich gelandet bin. Einerseits merke ich, dass ich diverse Glassplitter in mir habe und teilweise kräftig blute, andererseits sehe ich auch meinen neuen Feind auf den Buchladen zukommen.
Während er in das Schaufenster einsteigt, drehe ich mich auf den Bauch und packe das dickste Buch in meiner Reichweite. Und als das dunkle Wesen neben mir stehen bleibt, um sein sadistisches Spiel fortzusetzen, richte ich mich halb auf und schlage mit der offenen Seite des Hardcoverbuchs in sein Gesicht. Das tut weh, selbst einem Dämon, denn das Buch ist wirklich dick und hart. Ich werfe einen Blick auf den Titel: die Bibel. Wie praktisch.
Er taumelt zurück, ich richte mich ganz auf. Mich auf Lorbeeren auszuruhen wäre jetzt fatal. Ich versetze ihm einen linken Haken gegen die Wange, die ich soeben noch mit dem Buch malträtiert hatte. Er taumelt noch weiter zurück, aus dem Schaufenster ins Ladengeschäft, wo er das ein oder andere dekorative Element seines Daseinszwecks beraubt. Ich taumele hinterher, denn anders kann man das vermutlich nicht bezeichnen, was ich vollführe. Zumindest bin ich schneller beim Taumeln als der Dämon, denn er fängt sich von mir den nächsten Treffer ein. Und gleich noch einen. Langsam laufe ich mich warm und erinnere mich wieder, was ich so alles gelernt habe. Mehrere Beinkombinationen später liegt er auf dem Boden, und ich, wohlwissend, dass er ein Dämon ist und nicht verhätschelt werden will, springe beidbeinig auf seinen Kopf. Das sorgt erst einmal für Ruhe.
Ich bin sauer. Zu den Tomatensaftflecken kommen auch noch Blutflecken. Und nicht nur auf den Jeans. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Schnitzel nach dem Flachklopfen. Als ich es berühre, sind hinterher meine Hände rot, soweit ich es im schummrigen Alarmlicht beurteilen kann.
Die Polizei dürfte auch bald da sein.
Und das gefällt mir im Moment nicht wirklich. Wie erkläre ich denen, dass ich mich mit einem Dämon geprügelt habe und ihn dann mit der Bibel ruhigstellte? Wobei, es passt schon, irgendwie.
Der Dämon bewegt seinen Kopf. Sicherheitshalber springe ich auf seinen Bauch, damit er auf keine dummen Ideen kommt. Es wirkt.
„Was willst du eigentlich von mir?“, erkundige ich mich.
„Von dir nichts …“, erwidert er stöhnend. „Ich will Nasnat.“
„Warum?“
„Das geht dich nichts an.“
Ich entdecke meine sadistische Ader, er einen weiteren Schmerzpunkt in der Gegend seines Bauchs. Aber seine Meinung ändert sich dadurch nicht. Ich beschließe angesichts des Zeitmangels, dass ich damit leben kann.
„Die Polizei ist gleich da …“, erzählt er mir dann, leicht gepresst.
„Ich weiß.“
„Was willst du denen sagen? Und willst du riskieren, dass ich einige von deinen Freunden töte?“
„Du weißt verdächtig viel über mich“, knurre ich.
„Du bist berühmt.“
„Ach?“
„Das war dir nicht bewusst?“ Er lacht leise. „Du bist naiv, Fiona. Sehr naiv. Liebenswert naiv. Und du solltest mich gehen lassen, das wäre die beste Lösung für uns.“
Soll ich wirklich zugeben, dass ich das auch so sehe? Einerseits bin ich sauer auf ihn, andererseits habe ich es ihm mit Zinseszins heimgezahlt. Und das Blaulicht kann man schon sehen. Schlechtgelaunt trete ich zur Seite und beobachte ihn dabei, wie er leicht gekrümmt, aber dennoch flink durch das Schaufenster den Buchladen verlässt und dann die Hauswand hochklettert. Ach ja, da ist eine Feuerleiter.
Ich warte kurz, dann folge ich ihm.
Weit komme ich nicht. Unter mir hält ein Wagen, Türen klappen und ein Lichtkegel erfasst mich.
„Halt! Kommen Sie runter! Wir schießen sonst!“
Ich tue so, als würde ich vor Schreck erstarren.
„Los, runterkommen!“
Ich setze mich langsam abwärts in Bewegung. Noch bevor ich unten ankomme, werde ich von Händen gepackt, runtergerissen und gegen die Wand gedrückt. Zwei Hände tasten mich flink ab, dann werden meine Arme nach hinten gedreht und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Meine erste Verhaftung, na toll.
Wenn ich gehofft habe, ich würde erkannt werden, so wird diese Hoffnung enttäuscht. Selbst als ich mich umdrehe und sie mir ins Gesicht leuchten, merken sie nicht, wer ich bin. Ich beschließe, dass es vielleicht gar nicht so schlecht ist, wenn ich hier erst einmal wegkomme, daher lasse ich mich widerstandslos in den Streifenwagen bugsieren, nachdem mir meine Rechte vorgelesen wurden. Kaum sitze ich, kommen schon die nächsten Streifenwagen und ein Sonderkommando. Der Leiter des SEK kann allerdings nur noch feststellen, dass es nichts zu tun gibt. Er leuchtet mich kurz an, dann fahren wir los.
Ich lehne den Kopf zurück und schließe die Augen. Trotzdem merke ich, dass ich von dem Beifahrer beobachtet werde.
„Was war da los?“, fragt er plötzlich.
„Hast du eine Zigarette?“
„Nein“, erwidert er mürrisch und dreht sich wieder nach vorne.
Manchmal muss man einen Ort mehrmals besuchen, ehe man begreift, wie wichtig er ist. Zumindest schießt mir dieser Gedanke durch den Kopf, als wir am Präsidium halten. Ich werde nicht besonders sanft aus dem Wagen geholt und Richtung Hintereingang bewegt. Dennoch landen wir am Empfang.
Und hier starrt mich Marlen völlig entgeistert an.
„Was … wieso … was macht ihr da?“, stottert sie meine Begleiter an.
„Wir bringen eine Verdächtige, die wir verhaftet haben. Was ist denn mit dir los?“
„Eine Verdächtige? Himmel, wisst ihr eigentlich, wen ihr da verhaftet habt?“
„Bis jetzt haben wir ihre Personalien nicht aufgenommen“, erklärt der Beifahrer beleidigt. „Marlen, was ist los?“
„Was los ist? Ihr Idioten, ihr habt Fiona Flame verhaftet!“
Die Wirkung ist gewaltig. Fast so, als hätte sie ihnen erklärt, dass ich die Präsidententochter bin. Ich mustere die beiden, dann Marlen.
„Ich muss pinkeln. Begleitet mich jemand, oder nimmt mir jemand die Handschellen ab?“
Einer der beiden Jungs, die mich verhaftet haben, beeilt sich, mich von den viel zu engen Handschellen zu befreien. Ich reibe meine geröteten Handgelenke.
Marlen zeigt mir, wo die Toilette ist. Sie blicken mir alle stumm hinterher, bis ich die Tür hinter mir zuziehe. Die Toilette ist sauber. Ich verschanze mich in einer der Kabinen und lasse meinen Tränen freien Lauf.
Anschließend bemühe ich mich vor dem Spiegel, meinem Gesicht wieder ein halbwegs menschliches Aussehen zu geben. Dazu muss ich eine Menge Splitter entfernen, was zu diversen Nachblutungen führt. Und etwas schmerzhaft ist die Prozedur auch noch, was wiederum zu weiteren Tränen führt. Irgendwann bin ich fertig, wasche mein Gesicht, so gut es geht, und trockne es mit den Papiertüchern ab. Endlich erkenne ich mich selbst im Spiegel wieder.
Nachdem ich Marlen davon überzeugt habe, dass es keinen Grund gibt, Jack aus dem Bett oder aus was auch immer zu klingeln und es viel besser wäre, mich einfach wieder zu meinem Wagen zu fahren, bieten sich meine neuen Freunde an, den Chauffeurdienst zu übernehmen. Da sage ich natürlich nicht Nein.
Und so sitze ich wieder auf meinem angestammten Platz. Nur habe ich diesmal wenigstens die Hände frei.
„Hey, Freunde, habt ihr eine Zigarette? Oder ist das Rauchen hier verboten?“
„Beides“, erklärt der Beifahrer und hält seine Schachtel an das Gitter. Sogar Feuer gibt er mir, und er fährt die Seitenscheibe hinten hinunter. Ich kann das nicht.
„Eines würde mich interessieren“, sagt der Beifahrer. Sein Kollege ist möglicherweise stumm. Obwohl, so weit ich weiß, dürfte er dann keine Streife fahren. Also überlässt er wohl einfach nur das Reden seinem Kollegen, der das mit sichtlicher Begeisterung tut.
„So glücklich möchte ich auch mal sein.“
„Wie bitte?“
„Dass mich nur Eines interessiert.“
Jetzt lachen sie endlich, und zwar beide.
„Nein, ernsthaft. Wieso lässt sich jemand wie Fiona von uns festnehmen?“
„Wieso habt ihr mich nicht erkannt?“
„Es war dunkel und dein Gesicht … na ja … nicht gut zu erkennen.“
Ich denke an die vielen Glassplitter und nicke. „Ich war auch nicht ganz bei mir. Beim Kampf habe ich ein paar Treffer abbekommen.“
„Ja, das stimmt. Sollen wir dich nicht lieber ins Krankenhaus fahren?“
„Auf keinen Fall!“ Ich hasse Krankenhäuser, außerdem müssen sie nicht mitkriegen, dass meine Wunden schon alle verheilt sind. „Mir geht es gut, mein Mann wird mich hegen und pflegen.“
Das befriedigt sie nicht wirklich, aber sie lassen sich überzeugen, keine Planänderung vorzunehmen.
„Gegen wen hast du überhaupt gekämpft? Wir haben niemanden mehr gesehen.“
„Er ist auf das Dach entkommen“, erwidere ich. „Ich wollte grad zu meinem Auto, als er über mich herfiel.“
„Ist eine gefährliche Gegend hier. Aber dass ausgerechnet Fiona sich von so einem Typen …“
„Das war kein Straßenräuber.“ Ein schwacher Versuch, meine Ehre zu retten. „Die fliehen selten auf Hausdächer.“
„Das stimmt. Der Jaguar?“
„Ja.“ Ich verabschiede mich mehr oder weniger herzlich und steige aus. Um den Buchladen herum wird noch spurengesichert, aber der Auflauf hält sich in Grenzen. Nicht einmal die Presse ist da. Sie wissen ja auch nicht, dass Fiona beteiligt war. Ziel erreicht.
Ich beuge mich zum Beifahrer hinunter. „Hätte ich beinah vergessen. Es ist einiges kaputt gegangen, und wenn mal die Versicherung nicht dafür aufkommen will, sorgt bitte dafür, dass ich davon erfahre. O. K.?“
„Geht klar“, sagt der Fahrer lächelnd.
„Huch! Du kannst sprechen?“
Er lächelt immer noch, sagt aber nichts mehr. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Nach einem Gute-Nacht-Gruß fahren sie davon. Ich steige in den Jaguar ein und fahre ebenfalls davon.
Zwei Dinge werden mir schnell und schmerzlich bewusst. Erstens ist mein Handy im Arsch. Und zweitens, viel schlimmer, habe ich weder Zigaretten noch ein Feuerzeug. Beides scheint auch nicht zur Notfallausrüstung des Wagens zu gehören. Ich muss wohl ein ernsthaftes Wörtchen mit meinem geliebten Ehemann reden.
Zum Glück gibt es noch Tankstellen auf meiner Strecke, auch solche, die Tag und Nacht geöffnet haben. Als ich schon im Laden bin, fällt mir auf, dass ich überhaupt kein Geld dabei habe. Ich denke einen Moment nach, dann gehe ich zurück zum Auto. Nach kurzer Suche finde ich das Versteck des 20-Dollar-Scheins, der für solche und ähnliche Notfälle dort deponiert ist, und betrete wieder den Laden. Der Tankwart grinst dämlich.
„Marlboro und Feuerzeug!“
Da ich heute eh schon verhaftet wurde, pfeife ich auf Verkehrsregeln und öffne die Packung, während ich mit den Knien den Wagen lenke. Anschließend werfe ich alles auf den Beifahrersitz, damit das Handy nicht zu allein ist und fahre nach Hause. Für heute reicht es mir, echt.
Danny meldet mich an, und nachdem James die Haustür geöffnet hat, leckt er mir auch noch das Gesicht ab, bis ich ihn lachend wegschiebe. Dann trete ich vor James, der mich nachdenklich mustert.
„Ist das alles Tomatensaft oder auch Blut dabei?“
„Blut ist auch dabei.“
„Deins?“
„Auch.“
„Aha.“ Für einen Moment verspüre ich große Lust, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. „Und dein Telefon?“
„Liegt auf dem Beifahrersitz, bereit, beerdigt zu werden!“
„Oh …“ Er atmet tief durch. „Tut mir leid, Fiona. Ich war ziemlich sauer und auf 180, weil du dich nicht mehr gemeldet hast.“
„Ich … ich war verhindert. Und als ich endlich dazu kam, musste ich feststellen, dass mein Handy hinüber ist. Ich hätte von dem Präsidium aus aber anrufen können. Mir tut es auch leid.“
Jetzt grinst er. „Gut. Es tut uns beiden leid, was hältst du von einem Friedenskuss?“
„Jede Menge!“ Ich springe in seine starken Arme und küsse ihn wild. Seine Hände umklammern meinen Po, während er den Kuss genauso wild erwidert.
Als wir uns schließlich atemlos voneinander lösen, erkundigt er sich: „Und wo kommt das Blut denn nun her?“
„Das ist eine lange Geschichte.“ Da Danny mittlerweile jeden Busch einzeln markiert hat, gehen wir rein. „Ich war noch bei dem Zauberer in der Hoffnung, er wüsste was über Schneewittchen, aber das war eine Fehlanzeige. Und als ich das Haus verließ, fiel ein Dämon über mich her, den ich überhaupt nicht kannte. Er wollte mich sozusagen als Türöffner benutzen. Nach etwas gegenseitigem Gemetzel habe ich ihn beruhigt, aber da kam schon die Polizei. Und was hätte ich denen erzählen sollen, warum mich so ein Ding in das Schaufenster des Buchladens geschmissen hat? Also ließ ich ihn laufen und tat so, als wollte ich ihn verfolgen. Leider wurde das ein wenig fehlinterpretiert und ich wurde verhaftet.“
„Du wurdest verhaftet??“
„Ja.“
„Aber jeder Polizist in Skyline kennt dich doch!“
„Sie haben mich im Dunkeln und blutbedeckt nicht erkannt.“
„Und warum hast du dich nicht zu erkennen gegeben?“
„Eine gute Frage. Weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich war ich noch benommen vom Kampf. Der Dämon hatte einen ganz ordentlichen Schlag.“
„Na schön. Du solltest dich ausziehen und baden. Ich weiche die Sachen schon mal ein, vielleicht kriegen wir die Flecken noch raus. Und wir haben tatsächlich Kernseife da.“ Er grinst stolz.
„Super.“ Ich ziehe die Bluse und die Jeans aus, der Schuhe hatte ich mich ja schon beim Reinkommen entledigt. Während er die Sachen in den Keller mitnimmt, marschiere ich Richtung Badezimmer, gefolgt von Danny. Wieso hält er eigentlich mich für beschützenswerter als Herrchen?
Ich ziehe beim Gehen den Schlüpfer auch noch aus und lasse ihn einfach fallen. Dann bleibe ich stehen und drehe mich um. Danny starrt mich an, vor ihm liegt das Höschen. Jetzt weiß ich auch, warum er mir gefolgt ist.
„Vergiss es!“, erkläre ich ihm, aber er scheint mir nicht zu glauben. Ich lasse mich langsam auf alle viere runter, bis ich mit ihm auf Augenhöhe bin. „Vergiss. Es.“
Er fährt mir mit der Zunge durch das Gesicht und setzt sich hin.
„Auf keinen Fall!“, bekräftige ich mein Verbot, dann packe ich den Schlüpfer mit den Zähnen und richte mich auf. Danny wedelt mit dem Schwanz. Männer sind doch alle gleich.
Den Schlüpfer sichere ich im Bad und lasse Wasser in die Wanne laufen. Dann kommt die schwierigste Entscheidung des Tages: Welchen Badezusatz soll ich nehmen? Bis ich mich für Wildrose entschieden und eine ordentliche Portion in das Wasser geschüttet habe, ist auch James da. Er beobachtet mich, als ich mich in die Wanne gleiten lasse und setzt sich dann auf den Wannenrand.
„Und jetzt?“, fragt er.
„Jetzt bade ich.“
„Das ist doch schon mal was. Was ist der Stand wegen Ben?“
Eine gute Frage. Ich wünschte, es gäbe eine eindeutige Antwort darauf. „Ich weiß es nicht. Wenn ich daran denke, dass es ihm in diesem Moment vielleicht richtig dreckig geht … es gibt so viele Puzzlestückchen, die aber scheinbar gar nicht zusammenpassen.“ Seufzend nehme ich seine Hand und halte sie mir an den Mund. „Das Blöde ist … da fällt mir ein, das weißt du ja noch gar nicht!“
„Wahrscheinlich nicht.“
Er bringt mich mal wieder zum Lachen. Zwar nur zu einem kurzen und leisen Lachen, aber bereits das löst die Verkrampfung in meinem Bauch – wenigstens ein bisschen.
„Schneewittchen war im Präsidium.“
„Och! Und, habt ihr sie wenigstens verhaftet?“
„Du bist manchmal ein echter Idiot, habe ich dir das schon gesagt, mein Schatz? Nein, natürlich nicht, wir waren nicht da. Das war vor der Entführung, wahrscheinlich sogar direkt davor.“ Ich erzähle James, was ich weiß und auch, was ich nur vermute. Er hört mir aufmerksam zu.
„Sie sucht also jemanden“, fasst er anschließend zusammen. „Und dafür riskiert sie eine Menge, was sie vermutlich auch weiß.“
Ich nicke. „Wenn es wenigstens ein vollständiger Name wäre. David gibt es in Skyline vermutlich noch mehr als James.“
„Na!“
„Du bist eine Ausnahme. Und überhaupt, wieso sitzt du eigentlich draußen? Komm in die Wanne!“ Ich ziehe an seinem Arm, und da er nicht sonderlich stabil sitzt, ist er ziemlich schnell im Wasser. Danny bellt, fast könnte man meinen, er findet das lustig. So wie ich. James setzt sich auf und starrt mich an.
„Entschuldige, Schatz“, sage ich, muss aber dabei fürchterlich lachen. Das scheint ansteckend zu sein, denn schließlich stimmt er mit ein und beginnt sich auszuziehen. Als er sich an das gegenüberliegende Ende der Wanne drückt, drehe ich mich um und setze mich auf seine Beine, so dass ich ihn mit meinem Rücken spüre. Seine Hände lege ich über Kreuz auf meine Brüste.
„So ist es doch viel gemütlicher.“
„Ich weiß nicht, ob ich das als gemütlich bezeichnen würde“, erwidert James, „aber es ist in Ordnung so.“
„Was ist daran nicht gemütlich?“
„Vielleicht findest du es nicht gemütlich, wenn du abhebst.“
„Jetzt übertreib mal nicht so. Und außerdem, es gibt Wege und Lösungen.“
„Das ist wohl wahr.“
„Schatz … ich habe dir noch gar nicht erzählt, wie mein Besuch bei Nasnat verlaufen ist.“
„Du hast gesagt, er wäre frustrierend gewesen.“
Ich muss grinsen, denn ich hatte etwas anderes gesagt und James kennt mich gut genug, um es auf das Wesentliche zu reduzieren. „Ja, das stimmt schon. Aber er sagte auch, dass ich mal darüber nachdenken sollte, wo sich so ein Dämon mit Gefolge wohl verstecken könnte. Darüber habe ich auch nachgedacht, und wenn er nicht in den Katakomben lebt, was ich nicht glaube, dann kommt nicht viel infrage.“
„Warum nicht in den Katakomben?“
„Nenn es Intuition. Es passt einfach nicht. Viel zu auffällig, auch wenn es da unten jede Menge auffällige Typen gibt. Aber ich glaube, jemand wie Schneewittchen wäre bekannt. Und dann wüsste Nasnat davon. Außerdem benimmt sie sich, als wäre sie in unserer Welt nicht heimisch.“
„Gut, verstehe ich. Wo dann?“
„Ich könnte mir z. B. gut vorstellen, dass sie sich in einem verlassenen Haus einquartiert hat. Zwar könnte sie mit dem Geld auch eins kaufen oder mieten, aber das halte ich, zumindest so schnell, nicht für wahrscheinlich. Scheint auch nicht ihre Art zu sein.“
„Wieso nicht?“
„Weil sie sich einfach nimmt, was sie haben will.“
„So wie du?“
„So wie ich?“
„Tust du das etwa nicht?“
Hm. „Doch.“
„Na siehst du. Aber kommen wir zurück zu Schneewittchen. Also verlassene Häuser?“
„Oder gar Villen. Die möglichst abseits stehen, sodass es nicht auffällt, wenn plötzlich Dämonen darin wüten. So arg viele dürfte es davon nicht geben. Aber wie finden?“
„Da wüsste ich was.“
Ich verrenke mir den Hals, um ihn anzustarren. Natürlich! Wie blöd bin ich denn? Ich sitze direkt auf der Quelle. James ahnt meine Gedanken, denn er grinst. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen?“
„Arbeit geht nur mit Vergnügen“, erwidere ich, und ich spüre, dass er es eigentlich genauso sieht. Ich erhebe mich leicht, bis ich die Füße aufstellen kann, dann umfasse ich sein Glied und lasse es hinten langsam eindringen. Im Wasser fühlt sich das ganz anders an als auf dem Trockenen. Sein Schwanz pulsiert in mir, seine Hände lassen mich pulsieren. Mit einer Hand streichelt er abwechselnd meine Brüste, die andere kümmert sich um meinen Kitzler. Erst sanft, dann immer energischer kreisend. Als ich meinen – ziemlich lauten – Höhepunkt habe, kommt er in mir auch.
Mit geschlossenen Augen lausche ich unseren Atemzügen, die ganz langsam auf normale Frequenz zurückgehen. Als James aus mir herausflutscht, erhebe ich mich seufzend.
„Was nimmst du?“
„Was du nimmst.“
Nass und nackt gehe ich in das Wohnzimmer. Zum Glück liegen die Fenster auf der Gartenseite, obwohl es mich nur bedingt stören würde, wenn man mich von der Straße her sehen könnte.
Ich bereite zwei Whisky on the Rocks zu, was keine besondere Herausforderung darstellt, und dann ist auch James schon da. Er stellt sich dicht hinter mich und nimmt sein Glas.
„Von nur Vergnügen war aber nicht die Rede!“, sage ich lachend.
„Ich bin arbeitsbereit.“
„Ja, das merke ich. Cheers!“
Wir schaffen es dann aber doch noch ohne weitere Unterbrechung an den Laptop von James, um uns in proDB einzuloggen. Als Makler hat James einen ganz anderen Zugriff auf die Datenbank als gewöhnliche Sterbliche. Das ist jetzt ausgesprochen hilfreich.
Nach zwei Stunden haben wir insgesamt 5 Häuser ausgesucht, die in die engere Wahl kommen und die ich mir morgen anschauen will. Kurz denke ich darüber nach, sofort loszuziehen, denn jede Minute kann für Ben eine Minute zu viel sein. Letztlich überzeugt mich James´ Argument, dass ich wenigstens ein paar Stunden Erholung vom Kampf gegen den Dämon brauche, bevor ich gegen andere, womöglich viel gefährlichere Dämonen losziehe.
Als ich dann aufstehe und mich leise anziehe, hat die Morgendämmerung bereits eingesetzt. Ich fühle mich einigermaßen frisch, obwohl die Nacht unruhig war. Träume, an die ich mich nicht erinnern möchte, und die dennoch in meinen Erinnerungen rumspuken. Ich betrachte James, der tief und fest schläft. Danny liegt neben ihm, als wenn er mir sagen wollte, ich könne ruhig losziehen, er wird James beschützen, und wisse auch, dass er jetzt nicht mit kann.
Kluger Hund.
Diesmal nehme ich wieder meinen eigenen Wagen. Mein erstes Ziel liegt außerhalb der Stadt, mitten im Wald. Eigentlich ideal geeignet für Schneewittchen. Die Straßen sind noch ziemlich leer, ich komme gut voran. Schon bald habe ich das Gefühl, aus der Zivilisation herauszufahren. Wem die Villa, der ich einen Besuch abstatten will, auch immer gehört hat, er liebte die Einsamkeit und wollte darin nicht gestört werden. Ein schmaler, asphaltierter Weg schlängelt sich durch den Wald, und laut der Beschreibung, die James mir ausgedruckt hat, geht der Zufahrtsweg von diesem ab.
Ich verpasse ihn beinah.
Ab hier geht es zu Fuß weiter, nachdem ich den Wagen zwischen zwei Bäumen geparkt habe. Zum Glück ist der Boden trocken, bei Regen könnte ich Schwierigkeiten haben, wieder auf den befestigten Weg zu fahren.
Es sind einige hundert Meter bis zum Zaun um das Anwesen, denn von der Größe her ist es eins. Der Zaun ist dicht bewachsen und dadurch undurchsichtig, und auch hoch genug, dass nicht einmal Menschen, die größer sind als ich, darüber hinwegschauen können. Gerade darum nähere ich mich ihm so leise wie möglich und kampfbereit. Meine Intuition steht auf Alarm, ich spüre, dass die Villa nicht leer ist, wie sie eigentlich sein sollte. Zugleich spüre ich aber auch, dass es hier keine übernatürlichen Wesen gibt.
Da es von vornherein klar war, dass ich nicht immer die vorgegebenen Wege nutzen werde, trage ich nicht nur bequeme, sondern auch stabile Kleidung, in Tarnfarbe. Zumindest im Dunkeln. Ich klettere am Zaun hoch und betrachte die andere Seite. Nichts Aufregendes zu sehen, ein verwilderter, zugewucherter Garten. Ich schwinge mich rüber und lande im weichen Moos.
Irgendwo bellen Hunde.
Irgendwo bellen Hunde?
Ich atme tief durch. So was mag ich gar nicht. Ich will Hunden nicht wehtun, so wie ich eigentlich auch Menschen nicht wehtun will. Aber Letztere haben für gewöhnlich mehr Entscheidungsfreiheit und wenn sie mich angreifen, ist meine Hemmung, mich zu wehren, niedriger als bei Hunden. Irgendwie pervers.
Es bringt nichts, die Zeit mit Rumgrübeln zu verbringen. Aufmerksam marschiere ich Richtung Villa los. Das geht keineswegs in einer geraden Linie, derart zugewuchert ist der Garten. Und außerdem wird das Hundegebell immer lauter. Allerdings nähere ich mich den Hunden, nicht sie sich mir.
Und dann sehe ich sie. Etwa zwei Dutzend Hunde aller Größen und aller Rassen toben über den Rasen. Offenbar ist der Garten nur am Zaun entlang so verwildert, um den Eindruck zu erwecken, die Villa wäre unbewohnt. Um sie herum hingegen sieht alles gepflegt aus, wenngleich von einem Ziergarten keine Rede sein kann. Bei so vielen Hunden würde der auch nicht lange halten.
Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich hier Ben und irgendwelche Dämonen finden werde. Rückzug könnte eine sinnvolle Alternative sein.
Leises Knurren.
Mist.
Ich drehe mich langsam um und starre den Rottweiler an, der zähnefletschend vor mir steht. Das Gebell verstummt, und ich brauche mich gar nicht erst umzuschauen, um zu wissen, dass die anderen Hunde auch näher kommen. Beeindruckend, wie sie zusammenarbeiten. Das muss ihnen jemand beigebracht haben.
Ich blicke mich suchend um. Selbst wenn ich bereit wäre, die Hunde zu töten, es sind zu viele und am Ende würden sie mich zerfetzen. Ausnahmsweise könnte Flucht die bessere Alternative sein. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass ich es bis zum nächsten Baum schaffe und hochspringen kann, bevor sich die Zähne eines Hundes irgendwo in meinen Körper bohren.
„Sie sollten sich nicht bewegen.“
Ich wende den Kopf langsam dem Sprecher zu. Er steht schräg hinter mir, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Augen mustern mich durchdringend.
„Ich will hier nicht übernachten.“
„Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie hier eingebrochen sind. Das hier ist Privatbesitz.“
„Aber nicht Ihrer!“
„Wer sagt das?“
„Mein Mann ist Immobilienmakler. In der Datenbank ist dieses Grundstück als unbewohnt hinterlegt.“
Er lacht kurz, bitter. „Ach ja, diese schlauen Datenbanken. Ich habe das Grundstück gekauft, aber es nirgendwo eintragen lassen. Es war völlig verwahrlost.“
„Und Sie haben sich Mühe gegeben, dass es von außen immer noch so wirkt.“
„Ja, das hält Neugierige ab. Meistens. Was wollen Sie überhaupt hier?“
„Ich suche jemanden.“
„Auf einem vermeintlich leeren Grundstück?“
„Genau. – Hören Sie, ich habe weder die Zeit noch Lust zu diesem Spielchen. Ich konnte nicht wissen, dass hier jemand wohnt. Und ich will weder Ihnen noch den Hunden was antun, aber ich werde nicht länger hier rumstehen.“
„Ohne meine Erlaubnis sollten Sie sich aber nicht bewegen. Es sind viele Hunde und alle haben noch ihre Zähne.“
Ich betrachte die Hunde. Einige unter ihnen wirken selbst mit Zähnen nicht besonders furchterregend, aber andere haben ein ähnliches Kaliber wie der unablässig leise knurrende Rottweiler.
„Sehe ich so gefährlich aus?“
„Eigentlich nicht. Aber Sie sind bis hierher unbemerkt vorgedrungen, und das macht Sie durchaus gefährlich.“ Ja, eine voll logische Antwort.
„Prima. Und was haben Sie genau vor? Die Polizei rufen? Oder mich hier stehen lassen, bis ich vor Schwäche umfalle?“
„Hm. Interessante Ideen. Kann es sein, dass Sie einen leichten Hang zum Sadismus haben?“
Ich sehe ihn an. Er ist Ende Vierzig oder knapp über Fünfzig. Also wie James. Graue Haare, grauer, gepflegter und gestutzter Bart. Legere, bequeme Kleidung: Pullover, abgewetzte Jeans, Wanderschuhe. Wache Augen. Tief eingebrannte Furchen im Gesicht. Eigentlich ganz sympathisch.
„Na schön, ich habe keine Zeit für Spielchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich entweder über die Bäume wegkomme oder mit den Hunden fertig werde. Es wäre aber für alle besser, Sie riefen die Hunde einfach zurück.“
„Meinen Sie, die hören auf mich?“, fragt er amüsiert. Der Mistkerl scheint mich einfach nur für mein Eindringen bestrafen zu wollen. Ich schließe kurz die Augen, um nicht auf böse Gedanken zu kommen. Obwohl, es geht eher darum, sie wieder zu verscheuchen.
„Da bin ich mir sogar sehr sicher. Ich habe auch einen Hund und erkenne es, wenn Hunde auf jede Mimik reagieren. Außerdem hat jemand diesen Hunden beigebracht, als ein Team zu agieren. Sie sind der Boss.“
„Vielleicht stimmt das sogar.“ Er mustert mich jetzt genauer. „Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.“
„Sie pfeifen die Hunde zurück, und ich stelle mich vor.“
Er denkt darüber nach. Dann seufzt er und dreht sich um. Sofort wenden sich die Hunde von mir ab und setzen ihr ausgelassenes Spiel fort. Bis auf den Rottweiler. Er knurrt zwar nicht mehr, aber er bleibt mir auf den Fersen. Ich bleibe testweise stehen, er stoppt sofort auch.
„Er wird Sie nicht aus den Augen lassen, solange Sie auf dem Grundstück sind“, erklärt der Mann, ohne sich umzudrehen.
„Ein guter Gastgeber.“
Er lacht wieder kurz. „Ihr Humor ist bewundernswert. Die meisten Menschen, und insbesondere Frauen, so ungern ich das sage, in einer vergleichbaren Situation verlieren den Humor oder werden sogar panisch.“ Während er spricht, biegen wir um die Ecke und gelangen auf eine geflieste Terrasse mit einem Tisch und einem Stuhl. Aber der Geheimnisvolle ist auf Besuch eingerichtet, denn aus einer kleinen Laube holt er einen zweiten Stuhl. „Kaffee?“
Ich schwanke kurz. Einerseits müsste ich weiter, andererseits bin ich inzwischen sehr neugierig geworden, und man kann nie wissen, wofür so eine Begegnung gut ist. Also nicke ich.
„Setzen Sie sich bitte. Ronin wird Ihnen Gesellschaft leisten.“
Ronin? Ich betrachte den Hund neugierig. Er sitzt in etwa zwei Meter Entfernung von mir und starrt ins Nichts. Wobei dieser Eindruck garantiert nur täuscht. Als ich testweise eine Hand hebe, habe ich seinen Blick blitzschnell an mir kleben. Ich winke ihm zu. „Braver Hund.“
Der Geheimnisvolle kommt gleich darauf mit zwei Tassen Kaffee zurück. Er setzt sich mir gegenüber. „Ich glaube, Sie sind Schwarztrinkerin.“
„Meistens.“ Ich nehme einen Schluck von dem heißen Kaffee.
„Also, wie heißen Sie, unbekannte Schöne?“
„Das ist unhöflich.“
„Das stimmt, aber immerhin sind Sie hier eingedrungen, das verändert die Dinge etwas.“
„Auch wieder wahr.“ Ich seufze. „Mein Name ist Fiona Flame.“
„Fiona Flame“, wiederholt er leise. „Ja, ich kenne Sie. Eine Zeit lang sah man Sie überall, im Fernsehen, in den Zeitungen, wohin man schaute, sah man Sie. Es hieß, Sie wären gefährlich für das Böse. Was also wollen Sie hier?“
„Das Böse finden. Es ernährt sich von Menschenfleisch.“
Seine Augen weiten sich leicht. „Ah, ich habe davon gelesen. Und Sie suchen jetzt die unbewohnten Häuser ab, die abseits liegen?“
Er ist intelligent, keine Frage.
„Und Sie? Was ist mit Ihnen?“
„Über mich werden Sie außer in älteren Telefonbüchern vermutlich nichts finden“, erwidert er lächelnd. „Mein Name ist David Conrad.“
„David?“
„Ja, ein durchaus nicht seltener Vorname hierzulande“, erwidert er schmunzelnd.
„Ja, das habe ich mitbekommen“, murmele ich. Und füge lauter hinzu: „Und wieso sind Sie ausgestiegen?“
„Bin ich das?“
Ich werfe einen Seitenblick auf Ronin. „Ja.“
„Macht Ronin Sie nervös?“
Ich schüttle den Kopf und lange in meine Hosentasche. Sofort spannt sich der Körper des Hundes an. Ich hole meine Zigaretten und ein Feuerzeug hervor. „Darf ich?“ Als David nickt, halte ich ihm die Schachtel auch hin, aber er schüttelt den Kopf. Also zünde ich nur mir selbst eine Zigarette an und halte sie mit der linken Hand.
„Sie wollten mir was über sich erzählen, David.“
„Das ist Ihre Interpretation“, erwidert er ernst.
„Wie alles.“ Ich mustere ihn intensiv, aber nervös macht ihn das nicht. „Also gut, Sie wollen es mir nicht erzählen. Sie könnten aber wenigstens dem Hund erlauben, sich zu entspannen.“
„Glauben Sie, dass ich das kann? Es ist Ihre Anwesenheit, die ihn angespannt macht.“
„Aber nur, weil er Ihre Angst spürt.“
„Ich habe keine Angst!“
„Sie haben gerade das Gegenteil bewiesen“, stelle ich fest und nehme einen tiefen Zug.
„Rauchen ist ungesund.“
„Und jetzt lenken Sie auch noch ab. Und ja, ich weiß.“ Ich sehe den Hund an, der David anstarrt. Ein Wink von dem und er stürzt sich auf mich.
„Ich habe keine Angst, aber ich frage mich, wonach genau Sie suchen.“
„Hm.“ Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte den leicht grauen Himmel. „Ein guter Freund von mir wurde entführt, und ich würde ihn gerne in einem Stück finden.“
„Und dann sitzen Sie hier … ah, jetzt verstehe ich! Sie vertrauen wohl niemandem?“
Ich muss lächeln. Er ist wirklich intelligent. „Das ist keine Frage des Vertrauens. – Wollen Sie Ronin nicht doch erlauben, sich zu entspannen? Ich möchte ihn streicheln.“
„Er wird sich nicht streicheln lassen.“ David macht eine angedeutete Bewegung, und Ronin geht zu ihm hin. Nachdem er seine Kopfmassage bekommen hat, setzt er sich so hin, dass er mich wieder im Blickfeld hat.
Ich halte ihm meine rechte Hand entgegen.
David beobachtet uns neugierig.
Ronin mustert die Hand, dann sucht er meinen Blick. Danach mustert er wieder die Hand. Ich warte ab. Nach einigen Minuten erhebt er sich, kommt näher und schnuppert an meinen Fingern. Ich lasse ihn gewähren, auch als seine Nase an meinem Handgelenk ankommt. Dabei schaue ich ihn nicht direkt an, um ihn nicht zu verunsichern. Schließlich setzt er sich hin und lässt es zu, dass ich sanft seinen Kopf berühre und streichele.
„Alle Achtung“, sagt David. „Das hat noch niemand geschafft.“
„Er merkt, dass ich keine Angst vor ihm habe, aber auch, dass ich ihm nichts Böses will. Und er spürt vermutlich auch …“
„Was denn?“
„Nichts“, erwidere ich. „Erzählen Sie was über sich. Wieso leben Sie hier mit einem Hunderudel?“
„Ein Geheimnis? Faszinierend.“ Er lehnt sich zurück und legt seine Hände aneinander, mit den Fingerspitzen Kinn und Lippen berührend. „Im Grunde ist es keine große Geschichte. Ich war 20 Jahre lang Kinderarzt mit eigener Praxis. Und eines Tages hatte ich es satt. Ich hatte es satt, die vielen Kinder, die geschlagen und missbraucht wurden, die verwahrlost wurden, die gezwungen wurden, Abbilder ihrer Eltern zu werden, deren verlorene Wünsche zu erfüllen. Kinder, die vergewaltigt und schwanger wurden. Kinder, die angeblich die Treppe runtergefallen sind. Irgendwann wünschte ich mir, eine Pistole nehmen zu können und diese Eltern einfach zu erschießen. Und die Onkel und Tanten. Die Polizisten, die dann noch einmal auf der Seele der Kinder herumtrampelten. Die unfähigen Idioten von den Jugendämtern. Und irgendwann beschloss ich, dass ich einfach gehen sollte, bevor es ein Blutbad gibt.“
Er schaut mir in die Augen. „Habe ich Sie erschreckt?“
Meine Hand liegt auf dem Kopf von Ronin. Ich verneine kopfschüttelnd.
„Sie haben Tränen in den Augen, Fiona. Wen beweinen Sie?“
„Alle.“
Er nickt langsam. „Danke, dass Sie das sagen. Haben Sie Kinder?“ Und als ich verneine: „Werden Sie welche haben?“
„Keine Ahnung …“
„Ich glaube, dass ja. Sie werden eine gute Mutter sein. Ich weiß, Sie denken jetzt, wie kann der das wissen, er kennt mich ja erst seit ein paar Minuten. Nun, das stimmt. Aber ich sehe, wie Sie mit den Hunden umgehen. Und ich sehe, welches Vertrauen Ronin Ihnen entgegenbringt. Das reicht mir.“
Ich wische meine Tränen ab und nehme einen Zug von der Zigarette, bevor ich sie ausdrücke. „Ich sollte jetzt gehen.“
„Das finde ich bedauerlich, aber ich kann verstehen, dass Sie Ihre Suche fortsetzen wollen.“
Er bringt mich zum Gartentor, begleitet von den Hunden und vor allem Ronin. Ich halte ihm die Hand hin, die er nimmt. Sein Griff ist fest, seine Hand rau. Dann wende ich mich Ronin zu, der sich vor mich setzt. Lächelnd gehe ich vor ihm in die Hocke und streichele seinen Kopf.
„Langsam werden Sie mir unheimlich.“ Ich genieße Davids Verblüffung mit einem Lächeln.
Das nächste Haus befindet sich in einer Gegend, die schon mal bessere Zeiten erlebt hat. Es ist nicht ansatzweise so abgelegen wie das von David, und schon als ich es erblicke, weiß ich, dass ich hier nichts finden werde. Dennoch mache ich einen Rundgang auf dem Grundstück und durch das Haus.
Es ist kurz vor Zehn, als ich in der Nähe von dem dritten Haus den Wagen abstelle. Der Himmel bleibt bewölkt. Die Villa, die ich von außen betrachte, hat bis vor wenigen Monaten einer alten, einsamen Millionärin gehört, die ihr Geld mit Öl gemacht hatte. Genauer, ihr Mann war mal vor vielen, vielen Jahren einer der Drei Ölbarone gewesen. Er starb vor 30 Jahren und hinterließ Norma J. Elko ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Vor einem halben Jahr etwa fand ihr Butler sie tot im Bett, als er ihr das Frühstück servieren wollte. Mit 96 war sie sanft entschlummert. Gar kein übler Tod. Und was unangenehme Tode angeht, da kenne ich mich aus.
Ich stehe auf einem Waldparkplatz, von dem aus die hohe Mauer und die Einfahrt zu sehen sind, und rauche eine Zigarette. Hohe Mauer, moderne Überwachungsanlage, das Ganze noch sehr gut erhalten … keine guten Voraussetzungen für mich. Durchaus möglich, dass von den sich streitenden Erben so viel Geld in die Anlage gepumpt wurde, dass die Polizei in zwei Minuten da ist, wenn nicht sogar ein privater Wachdienst.
Alternativ ist Schneewittchen hinter dieser Mauer. Und dann wäre der Wachdienst wahrscheinlich die angenehmere Variante.
Hilft aber alles nichts.
Ich mache die Zigarette aus und lasse den Wagen zurück. Man kann wunderbar joggen, ohne die Mauer aus den Augen zu verlieren. An das Grundstück grenzt Waldgebiet, durch das zwar kein Weg führt, aber das stört mich ja nicht. Dafür kann ich mich unbeobachtet wähnen, sofern keine unsichtbaren Kameras mich längst entdeckt haben. Die Straße ist nicht mehr zu sehen und auch kein Mensch. Eine gute Gelegenheit, einen Blick zu riskieren.
Ich springe so weit hoch, dass ich die Mauerkrone zu fassen kriege und mich hochziehen kann. Sicher könnte ich problemlos über die Mauer springen, aber wer weiß, was auf der anderen Seite lauert.
Noch mehr Wald.
Ich blicke nach rechts, ich blicke nach links. Keine Kameras. Ich schwinge mich über die Mauer und lande auf dem weichen Boden. Ich verharre regungslos und lausche mit angehaltenem Atem.
Kann es wirklich sein, dass das Grundstück so schlecht gesichert ist? Fällt mir schwer, das zu glauben. Wahrscheinlich stehe ich gleich einem weißen Tiger oder so was gegenüber.
Ich ziehe meine Pistole aus dem Hosenbund unter dem Pullover hervor. Die hatte ich David gar nicht erst gezeigt, weil es keine Notwendigkeit gab. Er wird sich auch so gedacht haben, dass ich nicht unbewaffnet bin.
Der Wald wirkt gepflegt, allerdings sieht man ihm an, dass er keine Besitzerin mehr hat. Aber verlassen ist er trotzdem nicht. Und es sind nicht nur Eichhörnchen, Kaninchen und Füchse, die in ihm wohnen, nicht nur Krähen und Elster.
Ich werde beobachtet.
Mein Magen verkrampft sich kurz, als mir bewusst wird, dass ich mein Ziel gefunden habe.
Ich entsichere die Pistole, während ich mich umschaue. Es ist nichts Verdächtiges zu sehen, dennoch sträuben sich meine Nackenhaare. Sicheres Zeichen dafür, dass sich etwas in meiner Nähe befindet, das ich eigentlich gar nicht in meiner Nähe haben möchte.
Dann geht es rasend schnell.
Für die Pistole viel zu schnell, wobei diese mir gegen solche Gegner sowieso nichts nützen würde, was mir schnell klar wird. Ich weiß nicht, womit ich es zu tun habe. Sie bewegen sich unglaublich schnell, sind klein und haben große Zähne in großen Mäulern, die aus runden Köpfen herausragen. Der erste kommt von hinten und versetzt mir einen heftige Stoß. Ich fliege der Pistole hinterher und lande im Gras. Meine Reflexe sorgen dafür, dass ich mich umdrehe. So landet die Axt im Boden statt in meinem Rücken. Dem Wesen, das die Axt umklammert, verpasse ich einen Fußtritt ins Gesicht. Die Genugtuung, dass es nun an ihm ist, meterweit durch die Luft zu fliegen, kann ich dennoch nicht auskosten, denn die nächste Axt steuert meinen Körper an. Ich rolle seitwärts, bis ich gegen etwas Hartes stoße. Einen Baumstamm. Mit einem Fuß wehre ich den Arm ab, die Axt kracht dicht hinter meinem Kopf in den Boden. Mit dem anderen Fuß treffe ich die Zähne des Wesens, das grunzend zurücktaumelt.
Ich packe die Axt und springe auf.
Der dritte Gegner. Er steht hinter dem Baum, der Stiel seiner Axt presst meinen Hals gegen den Baumstamm. Die Kraft, die das kleine Wesen besitzt, ist atemberaubend. Wortwörtlich.
Das zweite Ding, dem ich grad die Axt abgenommen habe, versucht, sie sich zurückzuholen. Röchelnd lasse ich seine Axt los, von seinem eigenen Schwung getragen, purzelt er davon. Meine Hoffnung, dadurch Zeit genug zu gewinnen, mich um den Würger zu kümmern, erfüllt sich allerdings nicht, denn der Erste ist wieder auf den Beinen und visiert mit seiner Waffe meinen Kopf an. Ich empfange ihn hoch in der Luft mit einem wenig eleganten Fußtritt. Aber er erfüllt seinen Zweck, das Ding landet ebenfalls wenig elegant im Gras, seine Axt neben meinem Kopf im Baum.
Na ja, fast neben meinem Kopf. Rasender Schmerz schießt durch mein Ohr, das ich wahrscheinlich grad verloren haben. Und auch wenn ich weiß, dass es bald nachwachsen wird, der Luftmangel und der Schmerz zusammen machen mich verwundbar. Bevor ich reagieren kann, krallt sich der waffenlose Gnom in meinen Körper, was an sich schon mehr als unangenehm ist. Richtig schmerzhaft wird es allerdings, als er aus derselben Bewegung heraus seine Zähne in meinen Kopf schlägt.
Vor Schmerz rasend, zugleich blind, weil Blut aus meinem Kopf strömt und augenblicklich mein Blickfeld vernebelt, packe ich die Haare des Wesens und reiße seinen Kopf zurück. Zumindest versuche ich es, denn seine Zähne stecken fest in meinem Schädel. Und auch wenn das Gehirn selbst keinen Schmerz empfindet, sieht das bei der Kopfhaut schon anders aus. Hinzu kommen seine Krallen, die auch in meinem Körper wüten.
Mir wird klar, dass ich diesen Kampf verloren habe. Zwar weiß ich, dass das noch nichts über die Schlacht aussagt, trotzdem steigt schiere Verzweiflung in mir hoch. Verzweiflung und Wut über meine unglaubliche Naivität.
Ich lasse den Kopf des Dämons los und schlage die Fäuste von beiden Seiten gegen seine Ohren. Das hilft etwas, sein Griff lockert sich. Nach dem zweiten Schlag lässt er mich los und springt mit einem Rückwärtssalto weg.
Allerdings, das wird mir zu spät klar, nur, um den Weg für die Axt des ersten Dämons freizumachen.