Fionas Tagebuch: Warum Sex keine Waffe ist

Liebes Tagebuch,

meine heutige Therapiestunde war irgendwie denkwürdig.

Nachdem ich es mir gemütlich gemacht habe, fange ich an. „Ich möchte heute über … über dieses Ereignis damals im Flugzeug sprechen.“
„Welches Ereignis?“
„Wie, über welches Ereignis?
„Sie meinen das Ereignis, über das wir nicht zu sprechen brauchten, weil Sie damit auch so fertig wurden?“
Ich starre Robert an. Falls du es nicht mehr weißt, liebes Tagebuch, Dr. Robert Malcolm ist mein Therapeut. „Ja, ich meine das. Ja, ich rede davon, als ich in diesem Scheißflugzeug keine zwei Meter von meinen Eltern entfernt vergewaltigt wurde. Genau das meine ich.“
„Sie klingen wütend.“
„Ach ja?“
„Ja.“
Ich atme tief durch und provoziere damit die nächste Frage des Psychoterroristen. „Warum machen Sie das?“
„Was? Warum mache ich was?“
„Sich entspannen. Warum entspannen Sie sich? Ich denke, Sie wollen über dieses Ereignis sprechen?“
„Ja, will. – Hören Sie, Robert, es ist nichts, was mich im Alltag behindert. Wie eine vernarbte Wunde. Normalerweise merkt man nichts davon, nur wenn man es mal berührt oder wenn eine Front aufzieht, dann spürt man sie. Aber sie ist trotzdem da.“
„Und jetzt zieht eine Front auf?“
„Vielleicht!“
„Was macht Sie grad so wütend, Fiona?“
„Ich weiß nicht. Ihre Fragen.“
„Dafür bezahlen Sie mich doch.“
„Ja, ja. Ich weiß. Vielleicht war es doch keine gute Idee, damit anzufangen.“
„Heißt das, Sie wollen doch nicht darüber reden? Über das Ereignis?“
„Hören Sie auf damit! Ich bin doch nicht dämlich! Natürlich ist mir auch klar, dass da noch was ist, mehr als nur eine Narbe!“
„Ich weiß, dass Ihnen das klar ist. Und was wollen Sie mit dieser Erkenntnis anfangen? Was möchten Sie genau jetzt tun?“
Ja, was? Ich weiß es nicht. Oder doch, eigentlich weiß ich es schon. Ihm an die Kehle springen. Er scheint meine Gedanken zu erahnen, denn er zieht die Augenbrauen hoch.
„Worüber haben Sie gerade nachgedacht, Fiona?“
„Dass Sie nichts dafür können, ich aber trotzdem am liebsten Sie umbringen würde.“
„So sahen Sie in der Tat aus. Aber Sie haben Ihre Gefühle bereits interpretiert, anstatt einfach sie nur zuzulassen.“
„Ja, weil ich gegen Sie persönlich nichts habe. Es geht nur um die Wut in mir.“
„Worauf sind Sie wütend?“
Auch eine gute Frage. Ich denke kurz über sie nach. „Wissen Sie, Robert, ich habe darüber nachgedacht, nachdem … nachdem ich vergewaltigt wurde. Ich meine, bevor es mir passiert ist, habe ich gedacht, so eine Vergewaltigung ist quasi der Weltuntergang …“
„Ist es für viele Frauen auch. Und für viele Männer übrigens auch.“
„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Und genau darum habe ich mich gefragt, warum es bei mir anders ist. Und die Antwort, die ich damals schon gefunden habe, hat damit zu tun, dass ich diese Bestien getötet habe. Ich bin aktiv geworden. Die meisten Vergewaltigungsopfer haben diese Chance nicht.“
„Das sehe ich nicht ganz so. Aber Sie haben recht, die Erstarrung ist die größte Gefahr. Sicherlich ist es nicht immer möglich, und auch nicht unbedingt zu befürworten, dass die Vergewaltiger getötet werden. In Ihrem Fall sah es vielleicht anders aus, denn es ging ja nicht nur um die Vergewaltigung.“
„Ja, das ist wahr. – Wie auch immer. Trotzdem ist diese Wut da. Die Narbe schmerzt. Ich … ich sehe es noch genau … und ich spüre es … ich lag da, die Hände unter mir, gefesselt, und die Kerle haben mich durchgefickt. Einer nach dem anderen. Robert, ich war kein Kind der Traurigkeit. Mit 15 entjungfert, ich habe Dutzende von Männer gehabt. Mit Sex habe ich kein Problem. Was mich wütend macht, ist dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das ich damals hatte. Ich konnte nicht selbst bestimmen, was mit meinem Körper geschieht. Das macht mich so wütend.“
„Sie wollen also selbst bestimmen, was mit Ihrem Körper geschieht?“
„Soweit es möglich ist, ja. Ich weiß auch, dass er altern wird und irgendwann stirbt. – Robert, warum setzen Menschen Sex als Waffe ein?“
„Wie meinen Sie das?“, fragt er überrascht.
„Na ja … ich wurde doch nicht vergewaltigt, weil die Kerle an Entzugserscheinungen litten. Klar, sie hatten ihren Spaß dabei, aber das war nicht die Hauptsache. Es ging darum, mich zu brechen, mich unten zu halten. Zu erniedrigen und dadurch beherrschbar zu machen. In Kriegen wird das immer wieder gemacht, die Frauen der Gegner werden vergewaltigt, entehrt, erniedrigt, demütigt. Sex wird als Waffe eingesetzt. Überall wird Sex als Waffe eingesetzt. Warum?“
„Ich weiß es nicht, Fiona. Hat das noch mit Ihrem Thema zu tun?“
„Ich denke schon. Ja, ich weiß, ich verkopfe das gerade.“ Ich ziehe meine Schuhe aus und schlage die Beine unter. Meiner Wirkung bin ich mir absolut bewusst, und die Blicke des Psychoterroristen beweisen das. Aber er ist Profi genug, um nicht auf meine Provokation einzugehen. Vielleicht wäre es anders, wenn ich einen Rock anhätte und keine Jeans. „Mich beschäftigt das. Ich habe auch Sex eingesetzt, um zu kriegen, was ich haben wollte. Selbst jetzt, wo ich verheiratet bin und meinen Mann liebe, setze ich Sex ein. Ich glaube, es ist normal.“
„Man könnte annehmen, Sex ist ein wichtiger Bestandteil menschlichen Lebens.“
„Ja. Immerhin entstehen die meisten Menschen immer noch beim Sex. Übrigens, da wir schon bei Waffen sind, wussten Sie, dass eine Pistolenkugel mehr als dreihundertmal so schnell ist als das Ejakulat, jeweils Mündungsgeschwindigkeit?“
„Nein, das wusste ich nicht, aber es klingt interessant. Mit Samen kann man also niemanden töten.“
„Nein, das geht nicht. Sonst gäbe es uns beide nicht.“ Ich grinse ihn an. „Loch in der Gebärmutter wäre der Entwicklung eines Babys nicht sehr förderlich.“
„Klingt grausig.“
„Ich habe einen morbiden Humor, das haben schon viele gesagt.“
„Kommen wir zurück zu Ihrer Eingangsfrage. Zu dem Ereignis.“
„Sie sind fies.“
„Möchten Sie doch nicht darüber sprechen?“
„Ich weiß nicht. Was hilft denn gegen Narben, die ab und zu weh tun?“
„Kühlung.“
„Ist das eine Anspielung?“, erkundige ich mich misstrauisch.
„Empfinden Sie es so?“
„Was passiert eigentlich, wenn ich Ihnen jedes Mal 100 Dollar zahle, wenn Sie eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten?“
„Ich verliere meine Reputation als guter Psychotherapeut.“
„Jetzt werden Sie zynisch, Robert.“
„Warum denken Sie das?“
„Sie möchten keine leichtverdienten Hunderter, ich sehe schon.“
„Möchten Sie denn, dass ich mich prostituiere?“
„Sie haben die einmalige Gabe, selbst Aussagen in Fragen zu verpacken. Ich werde Sie in ein paar Jahren vielleicht sogar dafür bewundern.“
„Wieso erst in ein paar Jahren?“
„Für manche Dinge brauche ich etwas länger. – Robert, wir haben heute ungewöhnlich viel rumgeplänkelt.“
„Finden Sie? Haben Sie das Gefühl, diese Stunde hat Ihnen nichts gebracht?“
„Immerhin habe ich herausgefunden, wieso Sex keine Waffe ist. Das Mündungsfeuer ist zu schwach. O.K., ernsthaft. Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Einerseits habe ich schon das Bedürfnis, über … die Vergewaltigung zu sprechen. Andererseits weiß ich nicht, was.“
„Was ist Ihr Gefühl dabei?“
„Wut.“
„Das war spontan. Was noch?“
„Scham.“
„Scham? Wofür schämen Sie sich?“
„Dass meine Eltern mich beim Sex gesehen haben …“ Liebes Tagebuch, es hat mich völlig überrascht, dass ich nach diesen Worten einen Heulkrampf bekommen habe. Aber so war es. Ich habe eine ganze Packung Taschentücher verbraucht, ehe ich mich wieder halbwegs als Mensch fühlte. Der Psychoterrorist beschränkte sich darauf, mir die Papiertaschentücher anzureichen.
„Damit haben Sie nicht gerechnet?“, fragt er danach.
„Nein.“
„Haben Sie eine Idee, wodurch Ihre Reaktion ausgelöst wurde?“
„Ich … ich … ich glaube, ich möchte darüber jetzt nicht sprechen.“
„In Ordnung. Die Stunde ist sowieso rum. Vielleicht überlegen Sie sich, ob Sie nächste Woche darüber sprechen möchten.“
„Vielleicht“, erwidere ich abwesend, während ich die Schuhe anziehe.

Tja, liebes Tagebuch, das war der Höhepunkt des heutigen Tages.