Leseprobe: Die Prinzessin, die ihre Eltern tötete

„Nicht!“, rief Sarah. „Töte ihn nicht!“
Thomas sah sie an, dann den Mann, auf dem er kniete und an dessen Hals er sein Messer hielt. Der Mann zitterte, seine Augen waren angsterfüllt. Er war weich und kraftlos.
„In Ordnung“, brummte Thomas und erhob sich. „Ich glaube, er versteht uns nicht!“
Er, der sie nicht verstand, erhob sich vorsichtig. Er war ungefähr so groß wie Thomas, aber dünner und er wirkte im Vergleich schwach und ungeschickt. Schlaksig. Seine grauen Augen musterten die beiden Neuankömmlinge abschätzend und misstrauisch, doch er wirkte keineswegs überrascht.
Er sagte etwas, von dem die beiden nichts verstanden. Sarah zuckte die Achseln und antwortete: „Kannst du unsere Sprache denn überhaupt nicht?“
Der Mann starrte sie an.
„Oh je, das wird aber sehr eintönig!“, rief Thomas. „So schnell endet also unsere Reise, weil Lord Dargk vergessen hat, uns auf Sprachbarrieren hinzuweisen!“
„Dargk?“, fragte der Mann.
Sarah und Thomas blickten ihn überrascht an. Dann nickten sie gleichzeitig.
„Dargk!“, rief der Mann und erstrahlte. Er hob eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, sagte etwas Unverständliches und rannte davon.
„Wir sollten uns auf einen Angriff gefasst machen“, stellte Thomas trocken fest. „Ich glaube, Dargk hat sich hier unbeliebt gemacht.“
„So ein Blödsinn“, erwiderte Sarah. „Ich glaube, er will, dass wir hier warten!“
„Auf jeden Fall.“ Thomas nickte. „Die Frage ist nur, worauf.“
„Auf ihn.“
„Du bist sehr witzig, seit wir durch diese Tür gekommen und hier gelandet sind … Wo denn überhaupt?“
Sie schauten sich neugierig um. Zuerst dachten sie, sie wären in einer Höhle. Es gab nur künstliches Licht und sie hatten das Gefühl, von Steinmassen erdrückt zu werden. Dann stellten sie aber fest, dass die Wände aus regelmäßig geformten Steinen bestanden. Sie waren von Menschenhand gebaut. Das konnte keine Höhle sein. Aber was dann?
Bevor sie sich in diese Frage vertiefen konnten, kehrte der schlaksige Mann zurück. Allein. Das war bewundernswert. Sarah und Thomas entspannten sich etwas, bevor sie das kleine Ding in seiner Hand entdeckten. Es war eine Art Kasten, aber es blinkte. So etwas hatten sie noch nie gesehen, und es machte sie nervös. Thomas zog sein Schwert.
Der schlaksige Mann hob abwehrend die freie Hand, dann hielt er den Kasten hoch und sagte etwas. Doch statt seiner Stimme hörten die beiden eine fremde Stimme, die aus dem Kasten zu kommen schien: „Bitte tut das Schwert weg! Ich bin nicht euer Feind!“
Thomas sah Sarah mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich glaube, der Kasten versteht unsere Sprache und erzählt uns, was der Mann sagt.“
Der Mann nickte heftig. Dann sagte er: „Und er versteht euch und kann euch in meine Sprache übersetzen.“
„Aha. Und woher weißt du, welche Sprache wir sprechen, wenn du uns gar nicht verstanden hast?“
„Weil ich weiß, in welcher Zeit Lord Dargk lebt.“
Sarah und Thomas blickten einander an. „Du weißt, was der Turm der Geschichte ist?“
Der Mann nickte. „Ich bin ein Wächter.“
„Ein Wächter?“ Thomas begann zu lachen. „Der Wächter dort, wo wir in den Turm der Geschichte hineingegangen sind, sah bedeutend glaubwürdiger aus!“
Der Mann senkte den Blick. „Solche Wächter gibt es auf der Erde nicht mehr. Wir … wir haben nur die Aufgabe, Reisende in Empfang zu nehmen.“
„Aha. Wie heißt du überhaupt?“
„Ich bin Gyel Orot.“
„Schön, Gyel Orot. Mein Name ist Thomas Ay, und das ist Sarah Kayla, Königin von Untes. Aber vermutlich weißt du gar nicht, wo das ist.“
„Doch.“ Gyel schien die überraschten Gesichter der beiden zu genießen. „Wir haben viel Zeit und lesen die alten Schriften. Darin wird auch über Untes berichtet. Aber eure Namen sind mir seltsamerweise unbekannt.“
„Hm“, machte Thomas. „Das ist kein gutes Zeichen!“
„Wir sind grad dabei, die Vergangenheit zu ändern!“, knurrte Sarah. „Du verstehst mal wieder nichts!“
„Ganz schön bissig heute, Hoheit“, erwiderte Thomas stirnrunzelnd und grinsend.
„Sei doch still!“ Sarah wandte sich an Gyel und sagte nach einem misstrauischen Blick auf den Kasten in seiner Hand: „Führe uns zu deinem König!“
„Äh … es gibt keinen König mehr. Schon seit Jahrhunderten nicht!“
„Keinen König? In welchem Jahr des Herrn befinden wir uns denn?“
„Im Jahre 4024.“
„Tja.“ Thomas ignorierte Sarahs wütenden Blick. „Dargk hat uns ja gewarnt, dass in 5000 Jahren sich eine Menge geändert haben wird.“
„Sehr schön! Und nach diesem philosophischen Leckerbissen kannst du bestimmt auch noch sagen, was wir jetzt tun sollen!“
„Warum seid ihr überhaupt hierhergekommen?“, erkundigte sich Gyel.
„Weil … ähm … Du kennst wahrscheinlich auch nicht die Darbietung der Unterwürfigkeit wie Niederknien, oder?“
„Ich weiß, dass es in deiner Zeit üblich war. Aber in meiner Zeit, hier auf der Erde, ist es ohne Bedeutung. Wenn du Gott wärst, das wäre was anderes.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich den noch mag“, murmelte Sarah. „Also gut, wo sind wir hier überhaupt?“
Gyel sah sich um. „Im Inneren einer Pyramide. Der Turm der Geschichte geht durch sie hindurch. Er wurde eher zufällig entdeckt, als man auf der Suche nach einer versteckten Grabkammer einige Wände eingerissen hat.“
„Der Turm der Geschichte ragt doch bis in den Himmel!“
Gyel schüttelte den Kopf. „Seltsamerweise nicht. Er ist von außerhalb der Pyramide nicht zu sehen, obwohl er aus dem Inneren wirklich so aussieht, als würde er in den Himmel ragen. Das ist ein bis heute ungelöstes Rätsel.“
„Ich habe gelernt, ungelöste Rätsel nicht zu mögen“, stellte Thomas fest. „Nun, wir sind in deine Zeit gekommen, weil wir deinen … König, den du nicht hast, um Hilfe bitten … Du hast mich irgendwie durcheinandergebracht. Wir wollen das Königreich zurückerobern, das Sarah hinterlistig genommen wurde. Kannst du uns zu jemandem bringen, der eine solche Entscheidung treffen kann?“
Gyel runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Es gibt so viele Völker. Vielleicht kann euch der Rat der Föderation helfen. Aber der ist weit weg. Sehr weit. Auf dem Planeten Tad Aretan.“
„Planeten?“, fragte Sarah verwirrt.
Gyel seufzte. „Oh, ich vergaß. Ihr wisst gar nicht, dass die Erde nur ein Planet von vielen ist. Genauer gesagt, ihr wisst ja nicht einmal, dass die Erde ein Planet ist!“
„Was ist ein Planet?“, erkundigte sich Thomas. Er hatte das Gefühl, dass sein Wissen über die Welt und ihre Zusammensetzung nicht einmal ansatzweise dem entsprach, was Gyel darüber wusste. Und was Dargk darüber wusste, ihnen aber nicht mitgeteilt hatte. Das machte ihn nervös.
Gyel wirkte auch nervös. „Nun … äh … ein Planet … ein Planet ist sozusagen eine Kugel. Ja, sowas wie eine Kugel. Und die Erde ist ein Planet. Also ist sie eine Kugel.“
„Blödsinn!“, rief Sarah und trat mit gezogenem Schwert auf ihn zu. „Die Erde kann keine Kugel sein! Ich kann eine Kugel in der Hand halten, doch wer sollte die Erde halten? Etwa Gott? Du bist ein Lügner, ich sollte dir die Zunge rausschneiden!“
Gyel sprang entsetzt zurück. „Warte, warte! Ich kann es euch beweisen!“
„Wie willst du sowas beweisen?“, fragte Thomas amüsiert. „Du kannst keine Lüge beweisen!“
„Ich beweise euch, dass es keine Lüge ist. Kommt mit!“ Damit drehte sich Gyel um und verschwand durch eine Tür, bevor die beiden Durchgeknallten ihm etwas tun konnten.
Sarah und Thomas blickten sich an, dann zuckten sie gleichzeitig die Achseln und folgten dem verweichlichten Kerl.