Leseprobe: verstecken spielen oder eintauchen in Opas verwirrte Welt

Ich war spazieren, habe die Schneeglöckchen in meinem Garten betrachtet, die neben Krokussen und anderen Blumen, deren Namen mir gerade nicht einfallen, blühen. Die Vögel, die oben im Baumwipfel zwitschern und den Frühling ankündigen. Ich liebe es unwahrscheinlich, in der Natur zu sein. Manchmal sitze ich stundenlang auf meiner Bank hinter dem Teich, von der ich alles beobachten und von der Straße doch nicht gesehen werden kann – ein wirklich vorwitziges Plätzchen, sage ich Ihnen. Gestört hat mich bei meinem Vorhaben lediglich Helene. Helene heißt meine Frau. Sie begleitet mich seit Längerem schon überall hin. Sicher will sie nicht allein sein. Obwohl sie immer sagt, mich könne man ja nicht mehr allein lassen. Ich war immer gern an der frischen Luft. Was sollte dagegen sprechen? Ich gehe schon nicht verloren, ich kenn den Weg doch.
Ständig organisieren sie, dass jemand zu Hause ist, dass sie mich ja nicht allein lassen. Was soll ich denn anstellen? Als sei ich ein Schwerverbrecher oder ein kleines Kind. Heute ist ein guter Tag, ich bin bester Laune und fühle mich so fit wie lange nicht mehr. Mir macht nur der Mann etwas Angst, der im Badezimmer. Über dem Waschbecken schaut mich nämlich nun schon seit einigen Tagen dieser grimmige alte Mann an, mit seinen weißen Haaren, dem Bartansatz und den vielen, tiefen Falten im Gesicht. Was tut er da bloß? Was tut er in meinem Badezimmer? Er ist jeden Tag dort. Er hat sich mir nicht mal vorgestellt. Er sieht nicht gerade aus wie ein gesunder alter Mann, eher wie einer, der viel erlebt hat. Ab er was kümmert es mich? Ich kenne ihn ja gar nicht. Er hat sich mir bis heute nicht vorgestellt. Da sieht man mal, schlechte Manieren hat er auch noch.
Als ich in die Küche komme, sehe ich, dass Helene wieder Salat gemacht hat. Salat. Jeden Tag gibt es Salat. Nicht einen Tag bekomme ich etwas Anständiges. Immer den Salat. Manchmal bekomme ich auch gar nichts. Und dann wieder Salat. Da wundert sie sich, wieso ich nichts esse? Wenn wir was essen, dann vor dem Fernseher. Sie hat da ihr Programm, das sie
regelmäßig schaut … Helene stöhnt immer genervt, ich solle leer essen, aber wenn es doch nur Salat gibt. Aber was soll ich machen? Sie sollte mal etwas anderes kochen und auch einfach mal den Fernseher beim Essen ausschalten. Das würde ich mir wünschen. Ich kann nicht immer, nicht den ganzen Tag diese Menschen im Bildschirm ertragen, die einem immer was sagen müssen. Die reden auch den ganzen Tag Quatsch. Den ganzen Tag sitzen, das geht mir zu sehr in die Knochen. Wie soll ich mich umgewöhnen? Das will ich gar nicht, wo ich sonst immer körperlich gearbeitet habe, ich war immer unterwegs, immer auf den Beinen und habe hart geschafft. Nun Ruhe halten, den ganzen Tag und nichts Gescheites tun? Dazu habe ich keine Ruhe. Hin und wieder schleiche ich mich in den Keller. Dort habe ich einige der alten Flaschen gelagert. Es tut mir gut, dort zu sein und in alten Zeiten zu schwelgen. Jede einzelne hat nämlich ihre Geschichte. Geschichten, die mir noch heute präsent sind. Gern würde ich jemandem davon erzählen, weil ich es nicht auch noch vergessen möchte, doch es scheint niemanden zu interessieren. Meine Frau hat es schon zigmal gehört, meint sie immer, meine Tochter hat dafür keine Zeit, weil sie nie da ist, und mein Enkel kommt sowieso nie vorbei.
„Er ist zu jung, Papa“, meint Elise, wenn ich nach ihm frage. „Zu jung?“, frage ich nur ungläubig und erhalte keine Reaktion. Mir leuchtet nicht ein, wie jemand zu jung für seinen Opa sein kann. Sie halten ihn doch nur von mir fern. Ich würde meinen Enkel gern mal kennenlernen. Denn ich weiß schon gar nicht mehr, wie er aussieht. Seit mein Sohn sich mit seiner Familie aus dem Staub gemacht hat, ist der Kontakt nahezu vollständig abgebrochen. Erst als seine Frau sich wohl von ihm getrennt hat und wieder hierher gezogen ist, kam sie hin und wieder mal mit dem Enkel zu Besuch. Mir fällt sein Name gerade nicht ein … aber ich mache mir keinen Vorwurf. Er war so selten da, dass ich das vergessen darf. Das erlaube ich mir. Er hat auch einen ausländischen Namen, meine ich. Den kann man sich ja gar nicht merken. Früher hießen sie Hans, Wolfgang oder Hubert. Namen, die man sich einfach merken kann. Aber heutzutage … das merkt sich doch kein Mensch. Die Zeiten haben sich sowieso geändert. Früher haben wir ein ganz anderes Verhältnis zu unseren Großvätern gehabt, früher haben wir mit ihnen noch die tollsten Sachen erlebt. Heute spielen sie nur Computer, sie spielen Krieg. Früher hatten wir ihn, den Krieg. Und wir haben uns nie beschwert. Es ist alles für was gut gewesen. Es war nicht alles schlecht. Aber wem soll ich das erzählen? Niemand hört mir zu, wenn ich erzähle. Heute sitzen wir selbst vor dem Fernseher und starren ins Leere. Mein Arzt sagte mir neulich, ich hätte Durchblutungsstörungen, und mein Blutdruck sei zu niedrig. Aber kein Wunder ohne die frische Luft, die ich noch täglich hatte, als ich arbeiten gegangen bin. Ich war Winzer.
Das ganze Jahr über draußen. Heute tun mir die Knochen weh. Die Knochenarbeit fordert jetzt nun mal ihren Tribut. Und der viele Salat zum Essen machts auch nicht besser. Habe ich schon erwähnt, dass ich immerzu Salat essen muss? Jeden Tag. Jeden!

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