Leseprobe: Für Elise – 15 Briefe

Es gibt noch zwei Dinge nachzutragen: Lange Zeit war es mir nicht möglich, Musik von Gustav Mahler zu hören. Wohl an die zehn Jahre vermied ich jegliche Berührung mit diesem Komponisten. Aber irgendwann wagte ich einen erneuten Versuch mit Mahlers »unschuldigster« Symphonie, seiner Vierten. Es ging besser, als ich erwartet hatte, lediglich den vierten Satz konnte ich nicht ertragen, weil dort eine Sopranistin zum Einsatz kommt. Unterdessen bin ich in der Lage, unvoreingenommen dieser Musik zu lauschen. Die Zeit vergeht und die Narben schmerzen nur noch selten, namentlich bei Wetterwechsel.

Und: Ich wähnte mich in die Hebamme verliebt und lud sie in eindeutiger Absicht zu mir nach Hause ein. Aber bevor mein Herz größeren Schaden nehmen konnte, gestand sie mir, dass Männer nicht das Objekt ihrer körperlichen Begierde waren.

Genug davon; ich nehme gerne an, dass Sie sich nunmehr über Mahlers Stellenwert in meinem Leben unterrichtet fühlen. Die Musik Mahlers ist wie die Literatur Kafkas, aber das ist ein anderes Thema.

Ja, ist es das tatsächlich? Ist es wieder einmal ein Zufall, dass Kafka (der mir viel bedeutet und einigen Einfluss auf mein Leben hatte) und Mahler aus jüdischen Familien stammten? Kann ich so vermessen sein und diesem Umstand einfach die Tür weisen? Ach was, habe ich oft gedacht, der Zufälle sind viele und wer weiß, ob nicht das Leben als solches ausschließlich aus Zufällen zusammengesetzt ist. Sagt mir Mahler so viel, weil er aus einer jüdischen Familie stammte? Oder Kafka? Oder Mendelssohn-Bartholdy? Oder sagen sie mir so viel, obwohl sie jüdischen Ursprungs waren? Meine Gedanken beginnen, sich zu verwirren, ich breche hier ab.

Lange Zeit war es mir kaum bewusst, was es heißt, ein Jude zu sein und es war mir regelrecht gleichgültig. Ich erwähnte schon, dass niemand in meiner Familie orthodox war. Und kirchliche Dinge waren mir von jeher einerlei. Den Menschen, die ich meine Freunde, Kollegen, aber auch Feinde nennen muss, schien meine religiöse Heimat ebenfalls bedeutungslos zu sein. Und ganz plötzlich bekam ich einen Hauch der unseligen Zeit zu spüren. Ich war fassungslos und sah darin keinen Sinn.

Kurz nach meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag erreichte mich ein Schreiben der Chefredaktion der Zeitschrift »Musik Heute«. Die verantwortlichen Herren teilten mir darin ihre Freude mit, mich zu Beginn des folgenden Monats in ihrem Team willkommen heißen zu dürfen.

Ich hatte dieses Glück nicht erwartet, zeigte diesen Brief auf der Stelle Artur, der ein ausgiebiges Besäufnis vorschlug.

»Welcome to the music wonderland«, sang Artur laut und schief und ich grinste dazu. Er selbst war schon ein Jahr im Musikbetrieb unterwegs; sein Impresario verschaffte ihm hin und wieder Engagements in kleinen und mittelgroßen Hallen, die Artur finanziell natürlich nicht über Wasser hielten. Aber mein Freund war ein guter und fleißiger Komponist, außerdem war sein Ruf als geduldiger Klavierlehrer makellos.

»Zu deinem nächsten Konzert«, versprach ich leichtsinnig, »werde ICH etwas schreiben. Also tue dein Bestes.«

»Ich tue immer mein Bestes«, sagte Artur, »ich kann nicht anders.«

Ich habe es nie besonders geschätzt, mit dem Auto in eine mir relativ unbekannte Großstadt zu fahren. Also benutzte ich die Deutsche Bundesbahn, um nach Köln zu gelangen. Ich war schrecklich nervös und musste mich zusehends beherrschen, um nicht pausenlos zu rauchen. Die Zugfahrt schien Stunden zu dauern. Als die Lokomotive ungefähr einen Kilometer vor dem Hauptbahnhof noch in Deutz hielt, konnte ich es nicht mehr aushalten und verließ den Eilzug Wuppertal-Oberbarmen / Koblenz. Recht hatte ich getan, denn der Gang über die Hohenzollernbrücke brachte mir die Geduld zurück. Ruhig und unbeeindruckt zog der Rhein unter mir vorbei und schon war ich in einer kleinen Meditation gefangen, in der fließendes Wasser, gehende Menschen und vorbeifliegende Zeit die Hauptrollen spielten. Und dann kollidierte ich mit einer Gruppe Japaner, die sich säuberlich aufgereiht hatten, um den Dom aus dieser Perspektive zu begutachten. Die Asiaten nahmen meine englisch hervorgebrachte Entschuldigung feixend entgegen und schnatterten in ihrer ulkigen Sprache unergründliches. Direkt am Rhein setzte ich mich auf eine weiße Bank ( »Gestiftet von der Kölner Sparkasse«), rauchte fast glücklich eine Zigarette und wartete auf das Vergehen der Zeit. Ich dachte so gut wie nichts.

Das Haus, in dem die Redaktion meines neuen Arbeitgebers eine Etage belegte, befand sich auf der Hälfte des Weges vom Rhein zur Philharmonie. Man konnte die Nähe des Doms beinahe riechen. Die Fassade war elfenbeinfarben.

Ein flotter Aufzug beförderte mich ohne Murren in die dritte Etage. Auf einer Tür stand in sterilen Blockbuchstaben: »MUSIK HEUTE – REDAKTION«. Ich klopfte und trat ein.