Fionas Tagebuch: Danny und der Drache

Irgendwann im Sommer 2006

Liebes Tagebuch,

habe ich dir schon erzählt, dass Danny Drachen liebt? Nein? Warum nicht?
Vom Büro aus habe ich eine gute Aussicht auf einen der Stadtparks. Zu Fuß ist frau mit Hund in etwa 10 Minuten dort. Da Danny gut hört, ist die Strecke problemlos bewältigt, auch wenn sie ohne Danny in drei Minuten zu machen wäre. Aber Danny ist ein Rüde und führt einen schier aussichtslosen Kampf gegen die ignoranten Angeber der Umgebung, die seine Claimmarkierungen meinen immer übermarkieren zu müssen. Täglich grüßt das Pinkeltier.
Frau ist selten brav, aber sie führt Danny tatsächlich an der Leine. Etwas unbedachter ist die Garderobe. Seitdem sie nämlich festgestellt hat, dass sie in High Heels manchen Männern auf den Kopf spucken könnte, wenn sie denn wollte, trägt sie ab und an welche. Nicht oft, denn eigentlich ist sie ja Turnschuhfan. Oder Stiefeletten. Oder Sandaletten. Egal. Jedenfalls eher nicht so oft High Heels.
Aber heute schon. Sie hat am Nachmittag einen wichtigen Termin mit dem Bürgermeister und einigen Bankern, deswegen trägt sie dezent lila High Heels, die perfekt zum Minirock und der Seidenbluse, natürlich ebenfalls in lila, frau muss schließlich mit der Mode gehen, passen. Was sie morgens nicht bedacht hat, ist die Tatsache, dass sie versprochen hatte, heute Danny mit ins Büro zu nehmen, weil ihr heißgeliebter James einen besonders dichten Terminkalender hat.
Also laufen Danny, seines Zeichens Golden Retriever Mix und groß wie ein Pferd, sowie Fiona, ihres Zeichens schlanke 26-Jährige, deren lila High Heels mit der goldenen Farbe von Danny eher nicht so gut harmonieren, vom CSE-Gebäude aus Richtung Park. Fiona hat durchaus mitbekommen, dass die Security und einige andere Mitarbeiter sich nur mit Mühe und Not ein Grinsen bei diesem Anblick verkneifen konnten.
Aber gegen so was ist Fiona sowieso immun.
Dank ihrer Sportlichkeit hat sie auch keine Schwierigkeiten, tänzelnd an der Leine von Danny eben diesem zu folgen. Wie weit dies auch elegant wirkt, darüber denkt sie lieber nicht nach. Es ist ihr auch vollkommen egal. Außerdem, wenn schon lächerlich, dann wenigstens richtig!
Hund und Frauchen kennen den Park schon gut aus nicht so seltenen Besuchen um die Mittagszeit zwischen 11 und 17 Uhr herum. Dass um diese Zeit viele Leute mit Hunden hier sind, überrascht sie nicht, außerdem ist das nur gut, weil Frauchen Danny dann einfach von der Leine lässt und nach einer halben Stunde (oder zwei) wieder an die Leine nimmt und ins Büro zurückkehrt.
Normalerweise.
Bis zu diesem einen Tag.
Ausgerechnet an diesem einen Tag ist ein Vater mit seinem etwa elfjährigen Sohn auch im Park, und zwar ausgerechnet auf der Hundewiese. Und ausgerechnet an diesem einen Tag, an dem Fiona in High Heels und perfekt auf das Meeting abgestimmter Kleidung unterwegs ist, lassen die beiden einen Drachen steigen.
Fiona weiß es nicht, und eigentlich ist es ihr auch völlig egal, wieso Danny keine Drachen mag, die in ganz wilden roten und blauen Tönen angemalt sind. Aber er mag sie definitiv nicht. Und deswegen tut er etwas, was er sonst nie tut. Selbst wenn er das an einem Tag tun würde, an dem Fiona normal bekleidet ist, wäre das völlig egal. Fiona hat hervorragende Reflexe und Körperbeherrschung dank ihres Kampftrainings.
Aber High Heels und Miniröcke sind nicht ihr natürliches Element. Und außerdem ist sie gedanklich bei ihrem vor wenigen Wochen geborenen Neffen, den sie gestern zum ersten Mal gesehen hat. So ein Baby ist ja süß. Trotzdem, den Gedanken an ein eigenes Kind verscheucht sie umgehend, nur um dann zu sehen, wie ihr heißgeliebter James den neuen Erdling anschaut. Das hat sie nicht nur gestern nervös gemacht, das lenkt sie auch heute ab.
Und so kommt es, wie es kommen muss.
Danny sieht den Drachen.
Und gibt Gas.
Danny ist ein Golden Retriever Mix und außerdem ziemlich fit. Wenn sich also mehr als 40 kg Hundemasse raketengleich in Bewegung setzt und zugleich das Frauchen in High Heels darüber nachdenkt, welcher Zeitpunkt günstig wäre für ein eigenes Kind, einschließlich komplizierter Kopfrechnungen über die nächste Periode, dann ist das Ergebnis nicht weiter erstaunlich.
Hinzu kommt, dass es am Vormittag noch einen warmen Sommerregen gegeben hatte.
Während also Danny einen Drachen aus Kunststoff erlegt, beobachtet Frauchen diese Tat aus liegender Position und überlegt kurz, wie weit ihre Liebe zu Danny geht. Die Tatsache, dass sie dabei in High Heels, Minirock und Satinbluse bäuchlings in einer Regenpfütze liegt und ihre Hand wehtut, verschafft Danny einige Minuspunkte.
Monica, Fionas Sekretärin, reißt die Augen auf, als Fiona und Danny in ihr Büro kommen. Monica, die Fiona gut kennt, merkt nur an einem kurz angedeuteten Zucken des linken Mundwinkels von Fiona, dass diese eher unbegeistert ist.
„Was ist geschehen?“, fragt Monica entgeistert ob des Zustands von Fionas Kleidung.
„Danny hat entdeckt, dass er Drachenjägergene hat“, erwidert Fiona knapp, aber präzise. „Verschiebst du bitte den Termin mit dem Bürgermeister um eine Stunde? Ich fahre nach Hause, dusche und ziehe mich um. In der Zwischenzeit überantworte ich dir den Drachenjäger, achte aber bitte darauf, dass die Fenster geschlossen sind. Nur für den Fall, dass ein Drache hier oben vorbeifliegen sollte. – Ach ja, wenn ein Mann und sein Sohn sich am Empfang melden und eine Rechnung über einen Drachen bezahlt haben wollen, sorg bitte erstens dafür, dass Danny den Drachen nicht sieht, und zweitens, dass die Rechnung bezahlt wird. Bis gleich!“
Liebes Tagebuch, muss ich noch extra erwähnen, dass diese Fiona nicht bloß eine zufällige Namensvetterin von mir war?
Ach ja, das Meeting war erfolgreich.