Dieses Baums Blatt, der von Osten
meinem Garten anvertraut,
gibt geheimen Sinn zu kosten,
wie´s den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig´ Wesen,
das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
dass man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern
fand ich wohl den rechten Sinn.
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
dass ich eins und doppelt bin?
Johann Wolfgang von Goethe
Als ich mit circa 12 Jahren zum ersten Mal dieses Goethe-Gedicht aus seinem Westöstlichen Diwan las, dachte ich, Goethe müsste mich schon gekannt haben. Vom Tag meiner Geburt an war ich Eine von Zweien, untrennbar mit meiner Schwester verbunden und dennoch sehr individualistisch veranlagt.
Doch gleich auf diesen Gedanken folgte die Erkenntnis, dass das geschriebene Wort nie absolut in seiner Aussage sein kann, dass Goethe mich natürlich nicht kannte, sondern dass – ganz im Gegenteil – Worte dem Leser und seinen Erfahrungen und Phantasien Raum zur Interpretation bieten. Ein Grund, auf dem jeder, der sich auf das Abenteuer Lesen einlässt, etwas Eigenes erschafft. Eine Ehrfurcht und Furcht vor dem Gebrauch der Sprache entstand in mir und bewirkte, dass ich für Jahrzehnte die Musik als Mittel zum Ausdruck wählte und meine Gedanken, die ich in Worte fasste, für mich behielt. Man will ja schließlich verstanden werden, nicht interpretiert. Oder?
Die letzten sieben Jahre mit beruflichen Stippvisiten in vielen verschiedenen Bereichen und einer wachsenden Beziehung zur Philosophie in Theorie und Praxis führten zu meiner jetzigen Überzeugung, dass jeglicher Ausdruck eines Menschen nur besteht, indem er in anderen Menschen einen Eindruck hinterlässt.
So nehmen nun auch die Charaktere, die ich erschuf, und die Handlungen, die ich konstruierte, Formen an. Ich schreibe über Themen, die ihren Anstoß aus einem oder mehreren Momenten meines Lebens bekommen. Und ich freue mich, wenn meine Geschichten auf Leser treffen, die wiederum ihre Gedanken und Vorstellungen mit einbringen und alles im Fluss halten.