Leseprobe: Klosterrauschen

Draußen regnet es in Strömen. Es ist schon Herbst und lausig kalt. Die meisten Blätter sind schon von den Bäumen gefallen und ein heftiger Wind gibt sich redliche Mühe, auch die verbliebenen noch herunterzuwehen. In der Wohnung ist es gemütlich warm.
Ich spiele mit meiner kleinen Schwester Luisa, die ich immer Lu nenne. Viel kann man mit ihr nicht anfangen, da sie erst vier Jahre alt ist und die meisten Spiele nicht kapiert. Ich bin schon sechs und im ersten Schuljahr. Außerdem ist sie sehr zänkisch. Wenn ihr etwas nicht passt, fängt sie an zu heulen und schlägt mich vor Wut. Das lass ich mir natürlich nicht gefallen und ziehe ihr an den Haaren oder kneife sie in den Hintern. Dann wird sie noch wütender, weil ich ja stärker bin, läuft anschließend schreiend aus dem Kinderzimmer und petzt es unseren Eltern. Ich soll dann immer nachgeben, weil ich ja schließlich der Ältere sei. Das gefällt mir natürlich überhaupt nicht, und so suche ich mir dann meistens eine andere Beschäftigung. Am liebsten gehe ich in den Garten Ball spielen oder mit meinen Freunden irgendetwas unternehmen. Am Wochenende sind die aber meistens nicht da, und heute ist Sonntag. Nachdem Lu und ich unser übliches Ritual – spielen, schlagen, kneifen, schreien und weinen, bei den Eltern petzen – abgespult haben, kommt unser Vater ins Zimmer.
»Papa, ich war diesmal nicht schuld. Ich hab nicht angefangen! Lu hat mich wieder einfach so geschlagen!«, sage ich schon mal rein vorsorglich, wie eigentlich immer.
»Doch, du hast mir in den Popo gekniffen!«, heult Lu los.
»Schluss jetzt mit der Zankerei! Ich mach euch einen Vorschlag. Bei dem Regen können wir ja draußen nichts machen. Mama und ich haben überlegt, dass wir zu Onkel Theophil ins Kloster fahren könnten, um ihn zu besuchen. Da wart ihr doch lange nicht mehr! Na, was haltet ihr davon?«
Immerhin hat Papa erreicht, dass Stille und Frieden im Kinderzimmer herrschen. Ein hocherfreutes ›Ja, tolle Idee‹ will uns beiden jedoch nicht über die Lippen. Lu mag das düstere Kloster nicht, weil sie da immer still sein muss, da wieder gerade irgendwo gebetet wird. Ich mag zwar das Kloster mit all den großen und geheimnisvollen Räumen, aber Onkel Theophil in seiner ewig gleichen, muffigen Kutte liegt mir nicht so.
Und da ist noch etwas anderes, weswegen ich da nicht unbedingt hin will.
»Können wir nicht lieber ins Schwimmbad fahren? Da waren wir so lange nicht mehr! Bitte, bitte!« Ich habe mein bravstes Gesicht aufgesetzt.
»Ja, ja, Schwimmbad, bitte, bitte!« Einer der seltenen Momente, in denen meine Schwester mir zustimmt.
»Okay. Von mir aus. Schwimmen täte mir auch mal wieder gut! Da müssen wir aber erst Mama fragen, die hat Onkel Theophil nämlich schon angerufen.«
Mama findet Kloster heute wohl auch nicht so spannend und ist sofort einverstanden. Juchhu! Das große Hallenbad ist toll. Sprungbretter gibt es da, ein kleines Becken mit Rutsche nur für Kinder, und sogar ein Klettergerüst. Und Pommes! Blitzschnell haben wir unsere Badesachen zusammengesucht und stehen abmarschbereit an der Wohnungstür. Mama ruft noch schnell ihren Bruder, Onkel Theophil, an und vertröstet ihn auf das nächste Wochenende.
»Der Onkel war ganz traurig, dass wir nicht kommen«, sagt sie. »Besonders auf dich, Julian, hatte er sich schon so gefreut. Auf dich natürlich auch, Lu!«
Das kann ich mir denken. Ich weiß genau, warum. Was solls, jetzt gehts ins Bad. Das wird ein schöner Sonntag werden!
Lu und ich sitzen schon im Auto, Papa hat bereits den Motor gestartet, als Mama endlich mit den Badeutensilien kommt, sie schnell in den Kofferraum wirft und sich neben Papa setzt. »So ein Sauwetter!«, meint sie, während sie sich anschnallt, sich umdreht und schaut, ob wir beide auch angeschnallt sind. Dann fährt Papa los. Der Scheibenwischer schafft es gar nicht so schnell hin und her, wie der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt. Man kann kaum etwas sehen. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos scheinen verschwommen und blenden sehr. Es ist ziemlich viel Verkehr.
Das Radio spielt ununterbrochen irgendwelche Schlager, die nicht nach meinem Geschmack sind. Mama summt aber ständig mit. Dann folgen Nachrichten. Die mag ich noch weniger als die Schlager. Ich verstehe das alles nicht, was die da im Radio sagen. »Heute wurde ein lange gesuchter Kinderschänder festgenommen. Er soll in den letzten Jahren etwa zehn Jungen zwischen drei und zehn Jahren missbraucht haben. Nähere Informationen sollen morgen veröffentlicht werden. Und jetzt das Wetter …«
»Papa«, frage ich, neugierig geworden, »was ist ein Kinderschänder?«
»Das ist ein böser Mann, der Kindern wehtut.«
»Und was heißt ›missbrauchen‹?«
»Ja weißt du, Julian, diese Männer sind irgendwie im Kopf nicht richtig und fassen kleine Jungen an.«
»Was meinst du mit anfassen? Du fasst mich doch auch schon mal an, an der Hand und so.«
»Das ist ja auch normal. Solche Männer fassen die Kinder aber da an, wo sich das nicht gehört, wo man das nicht darf.«
»Wo denn genau?«
»Ja, äh, also … also zum Beispiel, also jedenfalls nicht an der Hand!«
»Ja wo denn? Am Fuß?«
»Nein, äh, also am Fuß ist es ja nichts Böses!«
»Na dann sag doch endlich, wo der die Jungen angefasst hat!«
»Okay. Ihr beiden müsst das ja auch wissen, damit euch so was nicht passiert. Und wenn es einer bei euch macht, dann müsst ihr uns das sofort sagen, hört ihr?«
»Klar! Aber was müssen wir wann sagen? Du sagst ja nicht, wo der uns nicht anfassen darf!«
»Ach so, ja, also zum Beispiel am … Mama, kannst du den Kindern nicht auch mal was erklären? Ich muss mich doch auf den Verkehr konzentrieren!«
»Wieder mal typisch! Also Kinder, wenn euch irgendein fremder Mann mal auffordert, die Hose auszuziehen, um ihm euren Popo zu zeigen, zum Beispiel. Oder, wenn einer euren Popo oder den Penis oder etwa Lus Scheide anfasst, das müsst ihr uns …«
»Das macht Onkel Theophil doch immer bei mir … verdammt, das soll ich doch nicht erzählen!« Das ist mir jetzt einfach so rausgerutscht. Mist!
Mein Vater tritt voll auf die Bremsen und dreht sich halb zu uns um. »Was macht der mit dir?«, brüllt er, vor Zorn rot angelaufen.
Das Auto gerät ins Schlingern.
»Pass auf, Erich!« Mama schreit laut auf, während das Auto richtig ins Schleudern kommt und auf die Böschung zurast. Papa reißt das Lenkrad herum und der Wagen rutscht und schlittert über die Fahrbahn auf die andere Seite. Er dreht das Steuer wieder zur anderen Seite, aber unser Auto gehorcht ihm nicht mehr und saust quer zur Fahrbahn in den Gegenverkehr. Ich sehe nur noch viele Scheinwerfer von allen Seiten auf uns zukommen, dann schreckliches Krachen von Blech gegen Blech, Glassplitter fliegen durchs Auto, das immer weiter rutscht und rutscht. Plötzlich ist mein Kopf unten, dann wieder oben. Wir überschlagen uns und ständig höre ich die Geräusche von Metall und zerberstendem Glas. Mama schreit immer noch, nein, sie kreischt. Lu schreit und heult wie nie zuvor. Es geht alles so furchtbar schnell. Plötzlich ist alles still und dunkel.
Als ich die Augen aufschlage, finde ich mich auf dem Rücken liegend in einer Wiese wieder. Der Regen hat mich bis auf die Knochen durchnässt. Mir ist schwindelig. Mein rechter Arm tut sehr weh, und als ich mir den Regen aus dem Gesicht wische, sehe ich Blut auf meiner Hand. Ich weiß zuerst nicht, wo ich bin und wie ich hierhergekommen bin. Dann sehe ich ein paar Meter entfernt unser Auto auf dem Dach liegen. Die Räder drehen sich noch. Ich springe auf, obwohl meine Beine schmerzen und mir nicht so recht zu gehören scheinen, und humple zum Auto. »Papa, Mama, Lu! Wo seid ihr?« Ich schreie es immer wieder laut weinend, als ich über etwas stolpere. Ein Teil von Lus Kindersitz. Ein paar Meter weiter sehe ich Lu im Gras liegen. Sie liegt auf dem Bauch. Ein Bein ist über ihren Rücken gedreht und der Fuß hängt auf ihrem Kopf. Sie ist mit Blut überströmt. Beide Arme sind irgendwie verdreht und stehen merkwürdig abgewinkelt in die Luft. Obwohl sie auf dem Bauch liegt, starren ihre offenen Augen zum Himmel. Und sie ist ganz still. Schreit nicht. Heult nicht. »Lu, Lu, sag doch was! Bitte, bitte, sag doch was! Schrei mich doch mal an!« Keine Reaktion. Sie schläft wohl. Ich stolpere weiter zum Auto. Dort sehe ich Papa und Mama, bis zum Bauch aus der Windschutzscheibe heraushängend, auf dem Boden unter der Motorhaube liegen. Sie sind auch ganz blutverschmiert. Mamas linker Arm liegt abgerissen neben dem Auto im Gras und ihre starren Augen sehen mich aus dem verdrehten Kopf genau an. »Mama, Mama, sag doch was! So sag doch was!« An dem starren Blick ändert mein Rufen nichts. Ich krieche unter die Motorhaube zu meinem Vater. Ich sehe, dass sich sein Brustkorb hebt und senkt. Ein merkwürdiges Röcheln kommt mit blutigem Schaum aus seinem Mund. Seine Augen sind geschlossen. Ich schüttele seinen Kopf. »Papa, was ist mit dir?« Ich heule und heule und schreie immer wieder: »Mama, Papa, Lu! Mama, Papa, Lu! Hilfe! Hilfe!« Papa schlägt die Augen auf, sieht mich an und versucht, einen Arm zu heben. Seine Lippen bewegen sich leicht und er bringt mit viel blutigem Schaum ein gehauchtes »Julian …!« hervor. Dann bekommen seine Augen einen seltsamen Ausdruck. So wie Mamas Augen. So wie Lus Augen.
Im Hintergrund auf der Straße sehe ich viele Autos stehen und aus der Ferne höre ich Polizeisirenen. Dann erkenne ich auch Blaulicht von beiden Seiten dorthin fahren. Ich schreie und weine unaufhörlich weiter, als sich ein Arm um mich legt und ein Mann in Uniform mich hochhebt. Ich will fort von ihm, aber er hält mich fest im Arm und geht mit mir in Richtung der blauen Blinklichter. Er bringt mich zu einem großen Auto mit einem roten Kreuz darauf. Dort legt man mich auf eine Liege.
»Der arme Junge!«, höre ich von irgendwoher. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf.

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