Leseprobe: Dumme Gedanken

Ich vermied es aber, Marie einen Vortrag über Bill Evans zu halten, denn wenn ich über Bill Evans rede, gerate ich vom Hölzchen aufs Stöckchen, und ich war ja nicht mit Marie unterwegs, um zu reden, sondern um ihr zuzuhören. Später einmal, dachte ich, aber nicht jetzt, und ich fragte Marie, „wie ist es eigentlich zu Ihrer Keith-Jarrett-Leidenschaft gekommen?“, um ihr die Möglichkeit zu geben, von sich zu reden. Es sollte ein Brückenschlag sein, kein Beginn eines Gespräches über Musikfragen, wie man sich denken kann, und ich hatte Glück. Marie blieb einen Augenblick lang stehen, um aufs Meer zu sehen, aber sie sah nicht wirklich hin, meinte ich jedenfalls zu spüren, sie legte sich Sätze zurecht, und ich stellte mich neben sie und tat auch nur, als blickte ich aufs Meer, das so ruhig war an diesem Samstagmittag, als wolle es jegliche Aufmerksamkeit vermeiden. „Es war der vierundzwanzigste Januar 1975, ich werde es nie vergessen!“ Sie machte eine Pause, sah mich an und setzte ihren Gang fort, sodass wir beide jetzt wieder gingen, nebeneinander, ohne Berührung, und sie nahm zum Glück den Faden wieder auf, „der vierundzwanzigste Januar, der Tag vor meinem Geburtstag, müssen Sie wissen, der Tag vor meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, an dem ich mein Abschlussspiel im Examen hatte.“ – „Examen?“, hakte ich ein. „Sie müssen wissen, ich studierte damals Klavier bei Gregorius in Köln. Legte unter Gregorius, der mir gut gesinnt war, bei dem ich, wie man sagt, ein Stein im Brett hatte, mein Konzertexamen ab. Aber darum geht es mir nicht, ich will Ihnen um Himmels Willen jetzt nicht mein ganzes Leben erzählen, keine Bange!“ – „Davon kann gar keine Rede sein“, sagte ich, „ich meine jetzt von Bange, im Gegenteil, ich fände es sogar wunderbar, wenn Sie mir Ihr Leben erzählten. Ganz ehrlich, ich kann mich nicht erinnern, jemals so neugierig auf das Leben eines Menschen gewesen zu sein wie auf Ihres, Marie!“ – „Um Gottes Willen!“, sagte Marie, „nein, nein! Aber Sie haben mich gefragt, wie ich mit Jarrett in Berührung gekommen bin, und da musste ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag ins Spiel bringen.“ – „Den vierundzwanzigsten Januar fünfundsiebzig“, sagte ich, weil mir dieser Tag naturgemäß ein geläufiges Datum ist seit Jahrzehnten. „Genau“, sagte Marie, „der Tag vor meinem Konzertexamen war der Tag des legendären Köln-Konzerts!“ Marie blieb wieder stehen und erweckte den Eindruck einer In-die-Ferne-Schauenden und ich tat es ihr gleich. Ich rechnete aus, dass, wenn Marie einen Tag nach dem Köln-Konzert fünfundzwanzig geworden war, sie lediglich vier Jahre jünger war als ich. Geradezu unglaublich fand ich das, denn ich hatte sie für deutlich unter fünfzig gehalten, genauer gesagt, ich hatte sie für eine Frau gehalten, deren Jahre keine Rolle spielten, weil sie von dem, was man als Alter bezeichnet, weit genug entfernt waren, um sich mit ihnen zu beschäftigen. In Wahrheit ist sie nur vier Jahre jünger als du, dachte ich, während ich am Horizont einen Vogelschwarm ausmachte, der sich möglicherweise gen England bewegte. Ich weiß noch, dass ich das dachte, weil ich in diesem Moment mit Marie lieber in England gewesen wäre, vielleicht einfach der größeren Entfernung zu Wuppertal wegen, als würde mir die Englandentfernung eine längere Mariepräsenz sichern. „Ich bin noch immer ganz Ohr!“, sagte ich zu Marie, die mich in diesem Moment betrachtete, als versuche sie meine Gedanken zu erraten. Von einem Nikotinkater, einem Alkoholkater war nichts mehr zu merken bei Marie, die sich jetzt kurz schüttelte, als sei sie nass geworden. Sie sah, anders noch als soeben im Hotel, rotwangig und erholt aus, erfrischt geradezu. „Ich habe dann tatsächlich die Woche vor meinem Geburtstag, also vor meinem Examen, in Gregorius’ Arbeitszimmer in der Robertstraße regelrecht gewohnt, war vom Flügel gar nicht mehr wegzubekommen; hatte mir eine Luftmatratze mitgebracht und schlief sogar dort!“ – „Robertstraße?“, hakte ich ein, weil ich die Wuppertaler Robertstraße im Kopf hatte, wo in den frühen Vierzigern die NSDAP-Zentrale gewesen war, heute die der SPD. Jemand, der den Vornamen Robert trägt, achtet vermutlich in ganz anderer Weise darauf, ob eine Straße Robertstraße heißt und was sich dort befindet; Marie aber meinte die Kölner Robertstraße, in der sich die Rheinische Musikhochschule befindet. „Mein Professor hatte es gut mit mir gemeint und mir zum Üben seinen Steinway wochenlang überlassen, genau genommen nicht nur den Steinway, sondern seinen ganzen Raum, denn er benötigte ihn nicht; es waren Semesterferien. Das war natürlich wunderbar für mich!“ Marie blieb einen Moment stehen; ich sah, dass sie errötete. „Ich war wohl seine Lieblingsschülerin gewesen und hatte anscheinend einen Stein im Brett bei ihm!“, fuhr sie fort, und ich dachte, ach so, darum errötest du. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit diesen läppischen Erinnerungen langweile, ich wollte ja auf Ihre Frage antworten und nicht bramarbasieren“, sagte Marie auf einmal in einem ganz anderen, plötzlich viel nüchterneren, auf alle Fälle lauten, gereizt klingenden Ton, der mir nicht gefiel. „Sind Sie von Sinnen, Marie? Sie langweilen mich doch nicht! Sie bramarbasieren doch nicht! Ihre Robertstraßenerzählung ist das Spannendste, was ich jemals gehört habe! Erzählen Sie um Himmels Willen weiter! Läppisch! Da hört sich doch alles auf! Ich wusste ja nicht, dass Sie Pianistin sind! Das ist ja großartig!“ Offenbar überzeugte ich Marie mit meinem Protest, denn sie sagte nun jetzt wieder leise und unaufgeregt, „na ja, Pianistin, so großartig ist das jetzt wieder auch nicht!“, und sie schaute aufs Meer. Wir waren schon weiter gegangen, als ich es meinem Gefühl nach erwartet hatte. Wir waren schon beinahe am sogenannten Fahrradstrand, der mit dem Auto nicht erreichbar ist. Ab da beginnt der sogenannte FKK-Strand, ab da sieht man je nach Wetterlage vereinzelt oder auch überwiegend Nackte durch den Sand waten oder auf einem Tuch liegen wie schon am Vortag, und obschon ich äußerst gespannt auf den Fortgang von Maries Bericht war, fiel mir ein, wie wir am Vortag ebenfalls nackt an diesem Strandabschnitt gegangen waren, und ich überlegte einen kurzen Moment lang, wird es wohl noch einmal dazu kommen, aber ich kam zu dem Ergebnis, dass es Marie, die ja die spontan vorgenommene Entkleidung initiiert hatte, heute nicht in den Sinn kommen würde, sich auszuziehen, da sie heute Vergangenheit bewältigte. Ich dachte noch, wer weiß, vielleicht war die gestrige Spontanentkleidung auch nichts anderes als Vergangenheitsbewältigung, ohne zu ahnen, wie recht ich damit hatte, denn Marie griff den Faden wieder auf, sagte, „dieser Steinway, Robert, Gregorius` Steinway, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich in dieses Instrument verliebt hatte seinerzeit, natürlich hätte ich mein Programm auch daheim üben können, auf meinem Blüthner, aber ich musste einfach diesen Steinway spielen, und Gregorius hatte mir sogar erlaubt, ihn für mein Vorspiel ins Konzertorium transportieren zu lassen; dort stand zwar auch ein Steinway, aber gegen Gregorius` Steinway war der ein Witz, Robert! Sie dürfen nicht denken, dass Steinway gleich Steinway ist, denken Sie das bitte nicht!“ In diesem Moment erreichten wir die Stelle, an der wir am Vortag, ganz ohne es besprochen zu haben, unsere Kleider ablegten, als sei dies eine Selbstverständlichkeit.

Heute wird es nicht so kommen, fürchtete ich, und trotz meines Interesses für Maries Erzählung bedauerte ich dies. Marie fasste sich jetzt an die Stirn, „wo war ich stehen geblieben?“ Ich half ihr, „ein Witz!“, wiederholte ich. Und sie sagte, „ja, Gregorius` Steinway, mein Konzertexamen, mein Köln-Konzertchen“, und über Köln-Konzertchen musste ich lachen, woraufhin Marie stutzte. „Was ist?“, fragte sie, wartete dann aber keine Antwort ab, sondern fuhr fort, „oh, ich werde es nie vergessen, ich hatte gerade mit dem Allegretto-Satz aus der Sturmsonate begonnen“, und sie sang mir nun das Thema vor, „babibabam, babibabam, babibabam, babibabim“, und ich nickte, mir war die Sturmsonate naturgemäß geläufig, mir hätte sie nicht vorzusingen brauchen, obwohl mich ihr Singen rührte, „ich hatte gerade die ersten Takte gespielt, da ging die Tür auf. Ich nahm an, es sei Gregorius und spielte weiter. Die Tür schloss sich wieder, und ich spielte und spielte und hörte plötzlich ein Flüstern, und da brach ich ab, drehte mich um. Da standen drei Männer, gegen die Türe gelehnt, Gregorius und zwei wesentlich jüngere Männer, Anfang dreißig, schätzte ich. Anfang dreißig, das bedeutete, dass sie keine Studenten mehr sein konnten, was aber auch allein deshalb klar war, weil ich sie sonst vom Sehen gekannt hätte. Ich grüßte die drei Männer. Gregorius trat auf mich zu und bat mich, den Steinway einen Augenblick zur Verfügung zu stellen, er bat mich, dabei war es ohnehin schon eine Großzügigkeit, dass ich seinen kostbaren Steinway bespielen durfte. Aber er bat mich. Es war ja sein Raum und sein Flügel, Sie verstehen, Robert?“ Ich nickte. „Selbstverständlich stand ich sofort auf. Gregorius sagte zum kleineren der beiden Männer, er hatte einen enormen Wuschelkopf und wirkte irgendwie, wie soll ich das ausdrücken, schüchtern, please try, please try, und der junge Mann mit dem Wuschelkopf ging zaghaft, geradezu unsicher an den Steinway, Sie wissen, wie Dustin Hoffman in Rainman neben Tom Cruise herwatschelt? So ungefähr ging er zum Steinway, setzte sich und sah mich an, als bäte er um Verzeihung. Ja, Robert, er sah mich an und lächelte, na ja, schüchtern, und dann intonierte er genau den von mir soeben geübten Allegro-Satz aus der Sturmsonate, ohne auf die noch aufgeschlagenen Noten zu sehen, und – Robert, ich kann Ihnen sagen! Er hatte einen bemerkenswerten Anschlag, einen wunderbaren Anschlag! Babibabam, babibabam, babibabam, babababim. Der Steinway sang auf einmal, was er bei mir nicht getan hatte. Einen solchen Anschlag hatte ich noch nie gehört, selbst von Gregorius nicht! Der Wuschelkopf spielte eine Weile mein Beethovenstück, brach aber irgendwann ab, er wusste nicht weiter. Er versuchte sich an etwas, das mich an Boogie-Woogie erinnerte, ich hatte von Jazz nicht die leiseste Ahnung damals, es gefiel mir jedenfalls nicht, und er brach wieder ab und vollführte ein paar technische Mätzchen, jagte Skalen im Sextabstand über die Klaviatur und sah dabei den anderen Mann an. Und nickte mehrmals. Nickte erst vorsichtig, dann immer überzeugter. So war das tatsächlich, Robert!“ Ich nickte.

Marie machte jetzt ein bedeutungsschwangeres Gesicht und fuhr leiser fort, um, wie ich vermutete, die Spannung zu erhöhen.

„Dann, dann stand er auf“, Marie flüsterte jetzt sogar, „und er ging zu dem anderen Mann hin und sagte etwas auf Englisch zu ihm, das ich nicht verstand, aber nicht, weil es englisch war, sondern zu leise für mich, und der andere Mann sagte zu Gregorius, Mister Jarrett würde sich sehr freuen, wenn er dieses Instrument heute Abend benutzen dürfte. Dabei richtete er seinen Blick auf mich. Gregorius nickte und sagte, aber sehr gerne, es ist eine Ehre für mich. Spätestens da war mir klar, auch Gregorius hielt diesen Wuschelkopf für etwas Überragendes. Für einen Überragenden! Er erklärte daraufhin mir, die ich wohl einen ziemlich entsetzten Eindruck gemacht haben muss, es tue ihm leid, mich an einen anderen Steinway setzen zu müssen, er werde sich sofort um einen anderen Steinway für mich bemühen, der dem seinen zumindest nahe komme im Klang. Dieser, also sein Steinway, werde leider abgeholt und für ein Konzert benötigt, das der Mister mit dem Wuschelkopf am Abend in der Oper geben werde. Er sei aus Amerika angereist und habe das Pech gehabt, dass der eigentlich für das Konzert vorgesehene Flügel nicht rechtzeitig aus Bremen eingetroffen sei, und Herr Eicher, das war also der andere Mann, sei den ganzen Tag schon mit Jarrett auf der Suche nach einem gleichwertigen Ersatz, aber es gebe in Köln vermutlich keinen besseren Steinway als den von Gregorius. Was zweifellos stimmte!“

Jetzt sagte Marie wieder mit normallauter Stimme, „ich kann mir auch kein besseres Instrument vorstellen, sein Steinway war der beste, das ist bekannt. Nun würde dieser junge Amerikaner also auf seinem Steinway ein Konzert geben“, erinnerte sich Marie, „und es werde sogar eine Schallplattenaufnahme gemacht. Den beiden Männern erklärte Gregorius, ich sei seine beste Studentin, was mich natürlich ungemein genierte.“ Tatsächlich errötete Marie jetzt.

„Bevor Sie weitererzählen“, sagte ich jetzt, ihr Erröten gleichsam als Stichwort aufgreifend, „heute ist es ja beinahe noch wärmer als gestern, wollen wir nicht noch einmal Luft an unsere Haut lassen, Marie?“ Marie reagierte völlig anders, als ich es erwartete, obwohl, wenn ich ehrlich bin, hatte ich gar keine Erwartung in diesem Moment; dazu war mein Umschwenken, mein Ablenken vom Köln-Thema viel zu spontan und unbedacht erfolgt. Im Nachhinein könnte ich mich ohrfeigen für meine an diesem Punkt völlig überflüssige Spontaneität, auch wenn sie mir an jenem Samstag nicht geschadet hat, wie ich sagen muss. Zunächst jedenfalls nicht, aber wer vermag es zu beurteilen, ob Maries Meinung, die sie sich ja ebenso wie ich die meine über sie eben erst bildete, eine andere geworden wäre. Im ersten Moment fragte ich mich derlei nicht, sondern nahm lediglich erfreut zur Kenntnis, dass sie, als hätte sie mich gar nicht gehört, oder besser, als wolle sie sich jetzt nicht unterbrechen lassen, ohne stehen zu bleiben damit begann, sich auszuziehen.

„Gregorius erzählte Eicher, dass ich anderntags mit Beethoven, Bach und Schostakowitsch aufzutreten beabsichtigte, dass ich meinen Examensabend gebe, und Herr Eicher sagte, „ganz fabelhaft, Ihre Sturmsonate soeben!“, und er lud mich ein, zur Entschädigung für den mir zugemuteten Instrumentenwechsel bei dem am Abend stattfindenden, seit Monaten ausverkauften, wie er betonte, Opernhauskonzert mit Jarrett zugegen sein zu dürfen, wenn es mich denn interessiere. Ich sagte tatsächlich auf der Stelle zu, obwohl ich genau wusste, dass es vollkommen verrückt ist, mitten im Examen einem Freizeitvergnügen nachzugeben. Ich hatte zwar soeben bereits mitbekommen, dass es sich bei Jarrett um einen Ausnahmepianisten handelte, der Gregorius’ Flügel aus dem Nichts heraus zu einem Klangwunder machen konnte, aber eigentlich hätte ich mich um mein eigenes Spiel, ich meine, mein eigenes Programm kümmern müssen, ich konnte es mir eigentlich gar nicht leisten, ein Konzert zu besuchen, und dann auch noch ausgerechnet das eines Pianisten. Herr Eicher schüttelte mir die Hand und sagte, ich solle einfach zur Oper kommen und nach ihm fragen, dann gehe das schon in Ordnung. Besser noch solle ich mich einfach Gregorius anhängen, der wisse Bescheid.“ Ich sah, dass Marie sich zu entkleiden begann und ich hatte kurz das Gefühl, ich müsste mich irgendwo anlehnen; mir war schwindlig, ich dachte, das ist zu viel für dich, dumm eigentlich, denn ich hatte mir ja sehnlichst gewünscht, Marie noch einmal in kreatürlichem Zustand zu sehen, ich war ja sozusagen darauf aus gewesen. Mein Schwächeln blieb nicht unbemerkt, Marie fragte, „was ist denn, haben Sie etwas, Robert?“, und ich sagte „nein, nein, erzählen Sie bitte weiter!“ Zum Glück erfüllte mir Marie meinen Wunsch.